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Urkundenfälschung: Journal 2000-2010 (German Edition)

Urkundenfälschung: Journal 2000-2010 (German Edition)

Titel: Urkundenfälschung: Journal 2000-2010 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Nizon , Wend Kässens
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Selbstwegnahme, Geltungslosigkeit; wenn man das übersteigert sich vorzustellen wagt, führt die Linie zu einer Entsprechung (Äquivalent) geistiger Verzückung. Die eingefangene Atmosphäre im Raum der höchsten Teilnahmslosigkeit ist verwunderlicherweise alles andere als fad, vielmehr wie im Kino spannend und lebensbunt zu nennen. Soll man diesen Grad der Vereinsamung mit Kasteiung zusammenbringen? Doch wohl nicht. Es fehlt einfach das Aroma des Trostes, natürlich auch der Selbstgefälligkeit. Was den eingefangenen spießigen Alltag in der kleinen Provinzstadt so welthaltig und komisch erscheinen läßt, hat mit der verschrobenen Optik des Beobachters zu tun. Ich lese dieses Buch, wie wenn ich einen alten Film sähe (Chabrol?), mitleidlos, sinnlos gottgefällig, nun, mein Frank Stolp ist im Vergleich zu Roquentin zwar auch aus allem herausgeschnitten, aber aus Verschrobenheit daherschwadronierend, nicht aus Verschrobenheit, aus unüberbietbarer Isolation. Ich weiß es nicht.

    23. August 2007, Paris
     
    Seit kurzem höre ich wieder Musik, klassische, wie in meiner musiktrunkenen Jugend, Klaviermusik, Konzerte. Jetzt eben Horowitz, hochbetagt, wunderbar, Engelstöne. Dachte wieder, die Musik sei die höchste der Künste, nur hier fließt der göttliche Atem oder Offenbarung (Verkündigung). Letzthin über das Starwesen der Interpreten, diese oft eitlen Statthalter (Musikbesitzer), gewettert. Sie sind ja nicht die Schöpfer, dachte ich; führen sich auf wie Halbgötter. Diven. Und nun sage ich mir, übrigens auch angeregt durch das Beispiel meiner Schwester, die eben eine CD aufgenommen und in bescheidenstem Rahmen in Umlauf gebracht hat; sage mir, die besten der Interpreten sind wie die chassidischen Gläubigen, die lebenslang den heiligen Text auslegen. Da sind sie, über das Instrument gebeugt, und dringen mit den Hämmerchen ihrer Finger immer tiefer, skeptisch hingebungsvoller, in den Text ein, um Nuancen, minimste Schwebungen besorgt.
     
    Warum nur wollte ich Maria zu meiner Geliebten machen, in eine Liebe verzaubern und einsperren, bis ihr Flügel wachsen, Schwingen, die mich mitnehmen. Sie, der kleine Schmetterling, wie hätte sie diese Rolle spielen sollen.

    1. September 2007, Paris
     
    Bei der Fahrt auf den Samstagmarkt Avenue du Président Wilson (neben Musée d’Art Moderne und Palais de Tokyo) die Verkündigung des Herbstes, der hohen Zeit, angesichts der angebräunten Laubbäume eingeatmet und: aufgeatmet. Bald kann ich aufleben.
    Neulich bei dem Presseempfang für die 2008er-Ausgabe des Petit Larousse in einem Luxushotel Nähe Georges V, wo die neu aufgenommenen Persönlichkeiten, darunter ich, vorgestellt wurden, auf die Frage nach meinem Lieblingswort vaurien vorgeschlagen, zu deutsch Taugenichts. Ich erwähnte, daß die vaurien im Gegensatz zu den Eminenzen und Machthabern auf anderen Gebieten, unter anderem im Wirtschaftssektor, darum als Nichtsnutze angesehen werden, weil sie im landläufigen Sinne unbrauchbar sind. In Wirklichkeit können sie nichts und interessieren sich für nichts Spezielles, weil sie für nur die eine Sache, zum Beispiel das Poetenleben und dichterische Wort, ausersehen sind. Sie können nur das eine, sie wollen inbrünstig nur das eine (und tun es auch in einigen Fällen), darum sind sie unverführbar für Erfolg und bürgerliche Karrieren und Geldverdienen. So ein vaurien oder Nichtsnutz war van Gogh, war Robert Walser. Genie und Nichtsnutzigkeit. In meinem Sinne ist der Nichtsnutz oder Taugenichts die Vorform des Poeten, der unterm Lebensbaum liegt und träumend das Leben vorausnimmt, tagträumend.
     
    Ich verbrachte die Festlichkeit in der mondänen Umgebung zusammen mit Odile und bald einmal mit Jacques Higelin, auch er Neuzuzüger im Larousse, ein wahrer Poet, eine Lebenswucht, ein Passionierter, nicht zu bändigen und dabei von der physischen Erscheinung her ein Jünglingsmann.
     
    Ich werde wohl doch mit der italienischen Reise beginnen, genauer mit dem Bahnhof Bern spät in der Nacht, mit den frierenden Bahnsteigen, Perrons in dem eisigen Februarlicht, mit dem jugendlichen Aufbruch. Wer ist der junge Mann, und wonach sehnt er sich? Wird er in der kurzen Zeit der Reise eine Verwandlung durchmachen, wird er wachsen? Wonach sehnt er sich, so vor dem Leben? Ich sagte heute zu Igor, nicht nur sei ich unfähig gewesen, in einem Kollektiv mitzumachen, sondern ebenso, lange Ferien mit einem Kreis von gleichaltrigen Freunden und Freundinnen zu verbringen, so wie Igor

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