Urkundenfälschung: Journal 2000-2010 (German Edition)
es eben jetzt in Cannes und St. Tropez oder St. Raphael gehalten hat, er überglücklich. Ich meinte, ich hätte es nicht fertiggebracht, meine Tage Stunden Nächte mit copains zu teilen, unfähig zu einem Bandendasein, und zwar darum, weil ich das Alleinsein brauche, um denken und träumen zu können, um meinen Selbstwahn zu mästen, grob gesagt, oder meinen Lebenstraum, um den Kokon zu pflegen, aus dem ich eines Tages als Falter ausschlüpfen würde. Die Frage ist, was war der Lebenstraum? Ich sagte, dazu diente das Alleinsein, die verhältnismäßige Isolation, weil die Kollegen einen niedrig zu halten die Tendenz haben, sie halten dich zurück, sie nivellieren alles mit ihrer Gleichmacherei oder Forderung nach geteilten Tagen, geteilten Ansprüchen, sie normalisieren dich. Ich aber wollte ein außerordentliches Leben, suchte die Maßlosigkeit, ich wollte, metaphorisch gesprochen, in den Krieg oder an die Front. Mich aussetzen und sehen, was aus mir ausschlüpft. Lebensmutprobe. Müßte von diesem jungen Menschen auf dem Bahnsteig ausgehen und dann von der Reise aus dem Winter zu den Früchte tragenden Orangen- und Zitronenbäumen des Südens. Und zu der babylonischen Hure. Und dann Rom anschließen, das Thema ist Wanderschaft.
16. September 2007, Paris
So wie die Kindheit eine Erfindung des 19., wenn nicht 20. Jahrhunderts ist (Rilke), so ist die JUGEND eine Erfindung der Nachkriegs-, speziell der fünfziger Jahre, so lese ich. Vorher gehörte die Jugend z. B. den Klassen an, man war ein junger Arbeiter, ein junger, vielversprechender Akademiker, Musiker etc., seit der Nachkriegszeit ist jung absolut, ein absoluter Wert sozusagen, und die Jungen aller Länder sind gewissermaßen eine andere Rasse, sie sind insofern von allen anderen Zugehörigkeiten emanzipiert, sie gehorchen weltweit ihren eigenen Devisen und Werten, leben in den sie mehr als nur vereinigenden Musiken und Lebensmustern und Weltanschauungen. Von der dazugehörigen Konsumwelt ganz zu schweigen.
Zu dieser Entdeckung und Großschreibung des Jungseins gehörte nach dem Krieg die neue sexuelle Freizügigkeit als stimulierendes Tauschgeschäft gewissermaßen, gehörte der ebenso freizügige Konsum der Rauschmittel etc. – man kann diese ganzen Bewegungen als Freiheitsbemächtigung ansehen, natürlich in der Opposition zu den Codices der bürgerlichen Vätergeneration (mitsamt deren menschlichem Kriegsverschulden und falschen Idealen). Emanzipation.
Ich könnte mir vorstellen, daß meine Literatur oder doch meine literarischen Anfänge unter ebendiesem Zeichen, vielleicht vorläuferhaft, steht. Ich dachte immer, ich gehörte als weitversprengtes Glied zu den Beatniks, den Kerouac- und On-the-road -Rausch-Süchtigen (die sich aufs Rad der Bewegung flechten). Es wäre zu bedenken oder zu überlegen, inwiefern mein Reisemotiv mit dem quasiblinden Wandertrieb und Weltenbummlerwesen jener Generation zusammengeht. Bestimmt gehört die Ablehnung der bürgerlichen Weltordnung allerdings mitsamt einer Sehnsucht nach neuen hohen Werten (bei den Beatniks das Morgenland und Hesse) zum Verbindenden. Und die Jazztrunkenheit natürlich. Und dann die Hochsetzung der Sexualität. Meine Zugehörigkeit zu dem derartigen apolitischen Jungsein zusammen mit der unkomplizierten Weibersucht etc. Ich müßte die ersten Bücher unter solchem Gesichtspunkt abschmecken oder testen.
12. November 2007, Paris
War in einer großen Soutine-Ausstellung in einer Pinacothèque benannten neuen Ausstellungsräumlichkeit an der Madeleine; die letzte ebenso umfassende Retrospektive anscheinend in den siebziger Jahren. Soutine sieht sowohl auf dem von Modigliani gemalten Porträt wie auf Fotos wie der junge Nizon aus, zum Verwechseln ähnlich. Er stammt aus Litauen. Und ich habe für kommendes Frühjahr eine Einladung nach Riga, wo mein Vater aufwuchs. Erregend die Landschaft in ihrem Aufruhr , wahre Erdbebenoptiken, wie ganze Wege, Straßen, Häuserreihen, Landschaftskörper sich aufbäumen und quasi in geologische Schichtungen auffalten. Wunderbar zwischendurch Porträts von einfachen Leuten aus den niederen Schichten, sie können in der Malkultur und Faktur kostbar anmuten wie Chardin, wenn sie in der Mimik und leichten Deformation auch eine denunzierende Kompassion verraten oder atmen, das Weltverlorene, Ausgesetzte. die gerupften aufgeknüpften Hühner und gehäuteten Ochsen (letztere als Motiv von Rembrandt übernommen). Soutine ist im Gegensatz zu einem Chagall so fern
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