Urlaub fuer rote Engel
ihn an, frage, als was er arbeitet.
»Ich bin der Arsch der Fabrik, weißt du.« Pause.
»Und wenn der Arsch verstopft ist, dann bläht der gesamte Betriebsbauch.« Dieter Mainka arbeitet zwei Kilometer vom Werk entfernt
als Haldenwärter. Allein. »Da redest du den ganzen Tag mit dir selber … Vielleicht werde ich einer der Letzten sein, wenn
in Merkers das Licht ausgeknipst wird. Denn die Fabrik muss ja abgerissen werden, und solange man abreißt, wird man auch was
auf Halde fahren.« Aber sicher könne man heutzutage nie sein. »Mein Sohn hat Gleisbauer gelernt. Ich dachte, das ist was Todsicheres,
wo doch überall neue Eisenbahngleise verlegt werden. Aber schon neun Monate vor dem Abschluss erhielt er die Kündigung … Er
hat sich zum Bund gemeldet.« Der Haldenwärter schweigt wieder lange. Dann fragt er mich plötzlich: »Was werden das für Leute
sein, die uns in Bonn empfangen? Polizei oder Bundesgrenzschutz? Wir haben so was doch noch nie gemacht.«
Radiomusik. Nachrichten. Als Spitzenmeldung immer noch Duisburg-Rheinhausen. 2.500 Stahlarbeiter sollen dort entlassen werden.
Politiker aller Parteien protestieren. Mein Nachbar sagt: »Würde das Stahlwerk im Osten stehen, kein Aas hätte ein Wort darüber
verloren.«
Die Rheinbrücken. Und dann die ersten Polizeikräder. Auf der Autobahn ist die Kalikarawane auseinandergerissen. Die Polizei
lotst die Busse einzeln durch die Bundeshauptstadt. Vorbei an den großen Parteihäusern. Einer ruft: »Habt ihr die Plakate
mit?« Und ein anderer: »Denen werden wir es zeigen!« Danach ist es unheimlich still, bis der Bus auf dem Parkplatz hält. Der
Mercedes-Stern dreht sich auf einem Hochhaus. »Wir sind richtig«, sagt Siggi Miersch. »Wo der Stern ist, muss auch die Regierung
sitzen.«
Die Ersten, die am nötigsten mal müssen, steigen flink aus, suchen zwischen mickrigen Sträuchern verzweifelt nach einer Deckung.
Finden keine. Immer mehr Busse kommen. Man wird es sich bis hinterher verkneifen müssen. Flüche. »So was nennt sich Bundeshauptstadt,
aber nicht mal ’ne Pissbude!« Die Transparente werden ausgeladen. Dann schreit jemand: »Formiert euch!«
»Wie zum 1. Mai?«
»Ja, so ähnlich.«
Immer mehr Polizeikräder. Und außerdem zwei PKW mit Zivilen, die unentwegt in ihre Sprechgeräte reinmurmeln. Die 1.500 haben
sich formiert. Sie gehen langsam, recken ihre selbstgemalten Plakate in die Höhe. »Schürfen unser Rohsalz erst die Hessen,
kannst Du Deinen Job vergessen!« – »Ossis, Menschen zweiter Klasse!« – »Hessischer Bergbau raubt Thüringer Salz!« –»Herrn Bethges Konsequenz – zuerst muss weg die Konkurrenz!«
Fotografen und Fernsehleute suchen nach Motiven. Und dann stehen wir an der Absperrung. Immer mehr Polizisten, aufeinander
eingespielt wie Bühnenarbeiter am Theater, befestigen Hunderte Meter von Eisengittern. Davor hat sich das kleine rote Feuerwehrauto
der Merkerser postiert. Aus dem Lautsprecher plärrt das »Deutschlandlied«. Der Zug stockt vor der Absperrung, drängt sich
um die Feuerwehr. Dann versuchen sich die ersten Redner. Aber die Lautsprecher auf dem Feuerwehrauto unterliegen im Duell
mit dem Bonner Verkehrslärm. Auch die am lautesten geschrienen Argumente sind bestenfalls zehn Meter weit zu hören. Die Kumpels
werden unruhig. Immer mehr Polizisten, auch berittene, warten hinter der Absperrung. Mitten im Gewimmel drei, vier Kumpels,
die einen um sich Schlagenden festhalten. Ein schmächtiger junger Mann, anscheinend sein Freund, beteuert den Umstehenden
immer wieder, fast heulend: »Das ist sonst ein feiner Kerl, Meister in der Fabrik, noch nie hat er sich betrunken. Aber vor
einem Monat erst die Frau weg und nun die Arbeit …« Eine Frau schreit: »Gebt ihm doch endlich eine unters Kinn, damit er ruhig
ist.«
Inzwischen hat sich ein Polizeieinsatzwagen so dicht neben das rote Feuerwehrauto gestellt, dass fast nichts mehr zu hören
ist. Einige Kumpels rütteln an den Gittern. Und immer lauter: »Schlimmer als in der DDR!« – »Polizeistaat!« – »Wofür sind
wir 89 bloß auf die Straße gegangen?« Und dann fast im Chor. »Rauf auf die Straße!« – »Wie 89!« – »Weg mit den Gittern!«
Die Absperrung kippt. Die Polizei weicht. Die Mengejubelt. Ein Kumpel zerschlägt sein Plakat an dem Helm eines Polizisten. Handschellen. Und dann stehen die Kumpels alle hinter
der Absperrung auf der Straße. Und wie weiter? Sie stehen und warten und fluchen.
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