Urlaub fuer rote Engel
einige der jungen Leute,
weshalb sie nicht mit zur Protestdemo nach Bonn gefahren sind.
»Wir arbeiten doch nicht im Kalibetrieb.«
Und was macht ihr?
Der eine ist in einer Tischlerei beschäftigt. Sie fertigt zur Zeit Holzgestelle für die Kalifabrik.
Der andere ist Klempner. Zur Zeit repariert seine Firma Kalilaugenrohre.
Ein alter Kumpel steht daneben, sagt: »Wir werden das alles noch lernen. Es hat uns doch bislang keiner beigebracht.«
»Spiel mir das Lied vom Tod!« I
Von Worbis aus fahre ich auf schmalen Straßen durch den Wald. Und noch bevor ich im Dorf Bischofferode ankomme, taucht unmittelbar
vor mir die rotbraune, bis zu den Wolken reichende zuckerhutförmige Abraumhalde auf. Sie sieht, von Regenwasserrinnsalen zerfurcht,
wie die Haut eines alten Elefanten aus. Auf dem Ortseingangsschild steht: »Bischofferode-Schacht«. Außerhalb des Dorfes gelegen
und seit 1993 trotzdem der Mittelpunkt des Ortes. Nur der stillstehende Förderturm und die alten Werksgebäude deuten auf das
Bergwerk hin. Eingangstor, Verwaltungsgebäude und Sozialtrakt ähneln einer avantgardistischen Plakatausstellung oder einem
afrikanischen Alphabetisierungszentrum, an dessen Wänden sich jeder voller Stolz mit seinen neuen Kenntnissen verewigt hat.
»Kohl, wir haben schon andere verjagt!« – »Berger, Bonze und Betrüger!« – »Bischofferode ist überall.«
Vor dem Tor stehen die Bergleute, kontrollieren, wer in das besetzte Werk hineindarf, nehmen die von Delegationen mitgebrachten
mutmachenden Transparente wie »Rheinhausen (West) und Bischofferode (Ost) liegen gemeinsam in Deutschland« entgegen, holen
die Streikkasse, die der Pförtner verwahrt, wenn ein Autofahrer hält und einen Geldschein aus dem Fenster reicht, und laden
Stiegen mit Säften ab, die ein Unternehmer aus Erfurt als Spende für die Hungerstreikenden gebracht hat. Ich frage nach dem
Kollegen, bei dem ich mich melden sollte, und einer von den Torwächtern bringt mich in dasVerwaltungsgebäude. Hilflos warte ich in dem Chaos von Zeitungen, Kaffeetassen, Kopierern, trockenen Brötchen, Malkästen,
Flugblättern, Apfelsinenschalen, Landkarten, stehe zwischen telefonierenden, rennenden, schreienden, sich auf die Schultern
klopfenden Männern und einigen Frauen. Betriebsratsmitglieder, Sprecherrat, Sympathisanten, Helfer aus vielen Bundesländern
…
Meinen Mann Lothar Adler kenne ich von einer Lesung beim Pfarrer in Masserberg, mit dem er damals, vor knapp zwei Jahren,
eine Reise durch die Sowjetunion auf den Spuren von Pastor Niemöller gemacht hatte. Er sei hier im Organisationsbüro Mädchen
für alles, also auch für Schriftsteller verantwortlich. Zwei Tage zuvor haben Heym und Plenzdorf in der Kantine vor den Hungerstreikenden
gesprochen. »Eigentlich hätte danach als dritter Klaus Schlesinger lesen sollen, aber in der Zwischenzeit ist einer der Hungernden
zusammengebrochen, musste ins Krankenhaus gebracht werden. Die Kumpels verabschiedeten ihn mit Blumen, und Schlesinger meinte,
dass jetzt nicht Vorlesen, sondern Schweigen nötig wäre.«
Bisher hatte ich, nach meinem pauschalen Einverständnis, in Bischofferode zu lesen, nicht gewusst, wie und wo und was. Nun
bin ich völlig verunsichert. Soll ich etwa vor den Kumpels lesen, die auf ihren Hungerpritschen liegen? Nein, in der vorderen
Hälfte der Kantine sei ein Aufenthaltsraum abgetrennt, dort würden sich die Hungerstreikenden zu ihren Beratungen treffen,
zu Gesprächen und Gebeten … Es sei nicht so, dass sie apathisch und siech auf ihren Pritschen lägen. Und er zeigt mir im hektischen
Gewimmel einige Frauen undMänner, die in Jogging- und glänzenden Fitnessanzügen so gar nicht zu den übrigen Betriebsratskumpels passen. Eine von ihnen
hat sanfte, verträumte Augen. Lothar stellt mich vor. Sie lächelt und sagt: »Ich habe dich beobachtet, du hast so ratlos in
diese Welt hier geschaut.«
Ich merke, dass sie sehr langsam geht, behutsam, wie auch die anderen in den Jogginganzügen.
Lothar sagt: »Karin ist schon fast zwei Wochen im Hungerstreik.« Sie protestiert. Heute sei es ihr 15. Tag! Aber am Montag
müsse sie unbedingt nach Berlin fahren.
»Mit deinem Auto?«, fragt Lothar. Sie nickt. »Allein?« Sie nickt wieder. Nein, das sei unmöglich, protestiert nun Lothar.
In diesem Fall werde er mit ihr fahren und mit dem Zug zurück.
Karin erzählt: »Am schlimmsten ist der dritte und vierte Tag. Da könnte man vor Hunger die Schuhe
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