Urlaub fuer rote Engel
Vielleicht eine Viertelstunde, dann tappen
sie wieder zurück.
Ein Polizeiauto mit stärkeren Lautsprechern mahnt zur Vernunft. Und kompromissbereit zwängen sich die Redner nun nacheinander
in das Polizeiauto und reden von dort aus ihre Reden. Gysi und die Thüringer Europaministerin Lieberknecht, der Salzunger
Landrat … Sie sitzen drin und schwitzen, sie schreien in das Mikrofon und hören hinter den Scheiben, wie in einem schalldichten
Rundfunkstudio, weder Buhrufe noch Beifall.
»Euer Kampf ist auch unser Kampf!« – »Ersatzarbeitsplätze schaffen!« – »Wer kämpft, kann verlieren, wer nicht kämpft, hat
schon verloren!« – »Vertrauen in die Regierung?« – »Ihr seid verarscht worden!« Zum guten Schluss: »30 Kumpels werden anschließend
mit Vertretern aus Politik und Wirtschaft sprechen. Alle anderen können nun zu den Bussen zurückgehen. Danke für eure Disziplin.
Gute Heimreise. Glück auf!«
Abmarsch mit gesenkten Plakaten. An den Bussen stehen Polizisten mit Krädern. Aber die stören nun niemanden mehr. Auch nicht,
als dem Bier endlich Tribut gezollt werden kann. In einer sich ständig erneuernden Reihe von vierzig oder fünfzig Männern
pinkeln wir am Rand der dichtbefahrenen Straße in geschlossener Formation auf eine Grünfläche. Ich frage den neben mir Stehenden:
»Was meinst du, ob sie was gebracht hat, die Demo?«
Er sagt lachend: »Auch wenn es heute umsonst gewesensein sollte: Wann werde ich es noch einmal erleben, dass ich in der Hauptstadt unter Polizeischutz an der Straße pissen kann?«
Unser Bus fährt noch nicht ab, weil ein Kumpel fehlt. Wir stehen in der Abendsonne und genießen die Wärme. Die Frauen beklagen,
dass sie in Bonn nicht einmal Zeit hatten, einkaufen zu gehen, und Siggi Miersch versucht den Busfahrer zu überreden, unterwegs
noch in einer gemütlichen Ausflugskneipe Rast zu machen.
Eine Traube von Kumpels drängt sich um einen Polizisten. Sie lassen sich von ihm seine schwere Maschine und den Sprechfunk
erklären. Klopfen ihm auf die Schulter. »Machst ja auch nur deinen Job.« Und leutselig erzählt der, dass die Sache heute harmlos
gewesen sei. »Die Bauern dagegen, die haben auf der Südbrücke Nägel gestreut und die Bannmeile mit Traktoren gestürmt.« Ein
Kumpel sagt: »Das nächste Mal …«
Nach einer Stunde erscheint der Vermisste. Er hat sich im Kanzleramtshof bei Waigel, Stoiber, Lafontaine und anderen Politikern
vergeblich um ein Autogramm bemüht.
Rückreise. Albrecht Hahnemann fährt eine andere Route. »Damit ihr was seht bei eurem Ausflug.« Und legt die Zillerthaler auf.
»Ihr dürft mitschunkeln.«
Es schunkelt keiner, aber einige singen und jodeln. Und Dreiergruppen spielen Skat. Ich setze mich zu einer der Frauen auf
einen der nun freien Plätze. »Wäre es etwa besser«, sagt die knapp 40-jährige Marina Herbst, »wäre es besser, wenn sie, statt
zu singen und zu skaten, alle zu Tode betrübt dasitzen würden? Das Leben muss auch ohne Kali weitergehen.« Ihr Mann arbeitet
wie siein der Kalifabrik. »Und wenn nicht ein Wunder geschieht, ziehen wir im nächsten Jahr mit unseren zwei Töchtern in Deutschland
herum und suchen Arbeit. Irgendwo finden wir welche.« Natürlich nicht so einfach wie damals, als sie von Leuna nach Thüringen
gekommen sei und in Merkers keine Arbeit erhalten hätte. »Seinerzeit brauchte ich unserer Nachbarin nur andeutungsweise zu
sagen, dass ich ohne Arbeit nicht zur ›Volkswahl‹ gehen würde. Am darauffolgenden Tag wurde ich zum Bürgermeister bestellt,
und der beeilte sich, mir mitzuteilen, dass ich sofort in der Verpackungsabteilung der Kalifabrik anfangen könnte.«
Und lachend erzählt sie mir, inzwischen schon Meisterin, wie sie in der vergangenen Woche sage und schreibe 300.000 Plastesäcke
unter das Volk verteilt hätte. »›Kaliumsulfat‹ stand drauf und ›DDR‹, und beides haben wir ja nun nicht mehr. Ich konnte die
Säcke gar nicht so schnell herunterschmeißen, wie man sie wegschleppte. Wir sind eben immer noch ein Volk der Sammler. 40
Jahre bleiben 40 Jahre.«
Albrecht schiebt die Zillerthaler-Kassette zum dritten Mal in den Recorder. Und Siggi Miersch geht mit dem Hut herum und sammelt
für den Busfahrer. Abschiedsstimmung.
Am Grenzwachturm sagt einer: »Und wir sind nicht im Westen geblieben! Wir sind zurückgekommen, Genossen.«
Vor dem Werktor in Merkers stehen ungewöhnlich viele Autos. Freitagsdisko im Kulturhaus. Ich frage
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