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Urlaub fuer rote Engel

Urlaub fuer rote Engel

Titel: Urlaub fuer rote Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Landolf Scherzer
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anfressen. In der Zeit haben
     wir alle besonders dicken Tomatensaft getrunken. Die Tage danach fühlt man sich, als ob man überhaupt keinen Magen hat. Nur
     trinken muss man, mindestens drei Liter am Tag.« Nach etwa zwei Wochen würde bei manchen der Kreislauf kollabieren. Bei ihr
     noch nicht. Und der Hahnemann, der hätte über 20 Tage ausgehalten, und am 15. Tag wäre er noch nach Erfurt gefahren und hätte
     im Landtag gesprochen. Sie entschuldigt sich. Sie müsse sich wieder mal hinten in der Kantine sehen lassen, der Verantwortliche
     würde jetzt öfter aufgeregt zählen, ob alle seine Schäfchen noch da wären. In der letzten Woche war Karin mit noch zwei Hungerstreikenden,
     ohne den Betriebsrat zu fragen (»die hätten es sowieso nicht erlaubt«), für zwei Tage verschwunden,war nach Ludwigshafen gefahren und hatte sich dort vor dem Sitz der BASF angekettet.
    Lothar hat inzwischen den Schlüssel für ein Zimmer im Arbeiterwohnheim organisiert. Dort kann ich heute Nacht schlafen. Zwei
     langgestreckte zweistöckige Häuser. Vor einem laufen Männer in verwaschenen weiten Baumwolltrainingsanzügen herum. Sie alle
     tragen helle breite und plattgedrückte Schirmmützen. Wie in Moskau, Kiew oder Saratow, denke ich. Lothar nickt. Aussiedler.
     Wolgadeutsche.
    Die Halde ist auch von hier aus zu sehen und auch das Transparent, das ein paar selbstmörderisch Mutige dort oben angebracht
     haben: »Bischofferode lebt!« Ihre Fußspuren vom Ende des Abraumbandes bis in die Mitte des rutschigen Gipfels sind nicht zu
     erkennen. Lothar sagt, dass sie wohl keine Chance gehabt hätten, wäre der künstliche Berg ins Rutschen gekommen. Wahrscheinlich
     ist das, was die Aussiedler hier sehen, für sie, die aus der Hoffnungslosigkeit Russlands ins angebliche Paradies Deutschland
     gekommen sind, schockierend, vermute ich. Nicht einmal für die Deutschen Arbeit, ringsum keine in Aussicht und nun sie noch
     dazu. Hilflos in der fremden Welt. Lothar sagt, vielleicht würden sich gerade deshalb die Ausländer und die Kumpels auf andere
     Art zusammengehörig fühlen, als das sonst üblich sei in diesem deutschen Land. Vor einigen Tagen wären die Hochseefischer
     in Bischofferode gewesen, hätten für die Kumpels kistenweise Räucherfisch mitgebracht. »Aber dann merkten sie, dass es nicht
     das passende Solidaritätspräsent für die Hungerstreikenden war. Macht nichts, sagten die, wir geben es den Ausländern.« Und
     gesternhätte der Betriebsrat, was selten vorkäme, einen einstimmigen Beschluss gefasst. »Spender aus Berlin hatten den Kindern der
     Hungerstreikenden eine Fahrt nach Berlin organisiert. Aber der Bus wäre nicht voll geworden. Und da beschlossen die Kumpels,
     die Kinder der Aussiedler mitzunehmen.«
    Im Zimmer stehen ein Schrank und zwei Betten, Tisch und Waschbecken. Ich packe den Koffer nicht erst aus. Überlege, aus welchem
     meiner Bücher ich den Kumpels vorlese. Nein, nichts von Kali und Arbeitskampf. »Such was Lustiges«, sagt Lothar, »zum Ablenken.«
    Vor der Kantine mit den Hungerpritschen steht die Betriebsuhr auf 5 vor 12. An der Tür ein mannshohes Holzkreuz und der Spruch
     »Bischofferöder zu sein – wie stolz das klingt«. Im vorderen Teil der durch eine spanische Wand abgetrennten Kantine sind
     in chronologischer Folge die Zeitungsberichte von den Hungerstreiktagen angepinnt. Der 29. inzwischen. Nur einige der Streikenden
     liegen auf den Pritschen. Die Friseuse ist gekommen. Vollbärte und Haare werden gestutzt. Fotografen laufen ungeniert zwischen
     den Liegen umher, als wären sie hier in ihrem eigenen Schlafzimmer. Immer wenn ein Kind auf dem Schoß des Vaters zu heulen
     anfängt, blitzen die grellen Lichter. Ich bleibe am Eingang stehen. Zwei handgeschriebene Plakate: »Füttern verboten!« Und:
     »Auch Journalisten dürfen spenden!« Die ersten Frauen und Männer kommen und setzen sich in die vorderen Stuhlreihen. Auch
     ein paar Kumpels von draußen setzen sich zu ihnen. Die hungerstreikenden Frauen haben ihre Saftflaschen mitgebracht. Trinken.
     Und ich stottere, weiß nicht, wie ich anfangen soll. Da sagteiner der Kumpels in einem flaschengrünen Freizeitanzug: »Schön, dass du hier bist. Also, ich bin der Andreas, und ich freue
     mich, dass du zu uns gekommen bist.« Einer hat ein Buch zum Signieren mitgebracht. Manchmal kämen unangemeldet auch unangenehme
     Besucher. Neulich ein paar forsche junge Leute, die ihnen zuerst ihre Sympathie im Kampf um die Erhaltung der

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