Urlaub fuer rote Engel
Marktplätzen als »Fetter Donnerstag« oder »Namenstag
der Dicken« gefeiert. Und die Kegler lassen sich zwischen ihren Serien Bier und Eisbein bringen. Und im Radio zur Unterhaltung
das »Lied vom Tod«.
Ich setze mich in die Gaststätte. Hier, wo früher die Kumpels nach der Schicht ihr Bier im Stehen tranken, sitzen an diesem
»Fressfeiertag« nur zwei ältere Ehepaare. Eine der Frauen trägt einen Papphut. Ich spendiere einen Schnaps, setze mich danach
zu ihnen. Die Eisbeine sind größer als die Teller. Einer der beiden Männer ist Arzt in Bischofferode, der andere war bis 1991
Chef der Instandhaltung über und unter Tage. Und danach?
»Entlassen! Von einem Tag zum anderen. Ohne Vorwarnung. Ohne zu fragen: ›Was wirste anschließend machen?‹ Ohne Dank und ohne
Glückauf, nach 38 JahrenArbeit im Bergwerk!« Damals, als noch keiner ahnte, dass zwei Jahre später die ganze Grube geschlossen und alle ihre Arbeit
verlieren würden, damals hätten sich die Kumpel einen Scheißdreck gegen die Entlassung ihrer Kollegen gewehrt. »Im Gegenteil,
da dachte doch jeder: Je mehr andere Kumpel entlassen werden, um so eher behalte ich meine Arbeit. Solidarität war ein Fremdwort,
bis es plötzlich allen an den Kragen ging.« Seit dem Tag seiner Entlassung ist er nie mehr im Werk gewesen. »Auch nicht während
des Hungerstreiks.«
Er bestellt zur Verdauung eine neue Runde Korn. Seine Frau schafft das Eisbein trotzdem nicht, und der Wirt wickelt ihr die
Reste vom »Fetten Donnerstag« ein. Er setzt sich an unseren Tisch, erzählt, dass er bis zur Stilllegung für die Kraftfahrzeuge
in der Grube verantwortlich war – und dann spinnen sie Pläne, wie endlich wieder Leute nach Bischofferode zu locken seien,
denn seit der Stilllegung der Grube am 31. Dezember 1993 sind schon mehr als 500 Menschen weggezogen. »Vielleicht sollte man
auf der Halde eine Erlebnisachterbahn mit alten Grubenloren bauen … Oder in der abgelegenen Försterei ein Bordell einrichten
… Wir sind hier zwar streng katholisch, aber schließlich geht es ums Soziale, und unser Pfarrer ist ein sozialer Mensch.«
Er hätte noch Glück gehabt, sagt der ehemalige Instandhaltungschef grienend, dass er schon 1991 entlassen worden sei. Er sei
als einer der Ersten rüber »in den Westen« gegangen, in ein Kieswerk. »War ja eine mit allen Wassern gewaschene Fachkraft.
Das wussten die im Westen. Und als der Unternehmer fragte, was haben Sie denn drüben verdient, dachte ich, schummelst ein
bisschen,machst 100 dazu, also habe ich gesagt, 1.800 DM. Da nahm der seinen Taschenrechner und sagte: ›Also einen Stundenlohn von
15 DM.‹ Und das war’s. Die haben damals nicht nur unseren Markt kassiert und sind die Kalikonkurrenz losgeworden, die haben
auch hochqualifizierte Fachkräfte fast zum Nulltarif erhalten. Ich habe mich drüben wieder raufgearbeitet, bis zu 25 DM in
der Stunde, was normal ist. Mir alles wieder erkämpft. Und während die hier mit Tränen in den Augen standen, als der erste
Fabrikschornstein der Grube gesprengt wurde, da arbeitete ich.«
Es könne sich aber nicht jeder aus eigener Kraft helfen, sagt der Arzt. Schwache würden dabei auf der Strecke bleiben. »Einige
von ihnen bitten täglich beim Pfarrer in Bischofferode um belegte Brötchen und Suppe.« Das weiß ich schon, denn ich hatte,
wie es sich im katholischen Eichsfeld geziemt, vor meinem Kneipenbesuch den wichtigsten Mann im Dorf aufgesucht, den Pfarrer.
Pfarrer Klapproth ist 60, trägt Jeans und seine Haare wie im antiken Rom. Im Gemeindesaal sind Karnevalsgirlanden gespannt.
Er fastet selbst nicht mehr in aller Strenge, aber übt jedes Jahr ein wenig Verzicht. Im vergangenen Jahr auf das Bier, in
diesem Jahr wahrscheinlich auf Süßigkeiten. Im Gegensatz zu DDR-Zeiten, wo die Glaubensgemeinschaft im katholischen Eichsfeld
so etwas wie ein strenges Trutz- und Schutzbündnis gewesen ist, sind die Eichsfelder mit der neuen Freiheit auch in der Auslegung
des Glaubens freier geworden. »Sind befreit davon, dass Mann und Frau nur in der Ehegemeinschaft zusammenleben, sich nie mehr
scheiden lassen dürfen, und nun auch noch befreit vom christlichenGebot, das tägliche Brot im Schweiße des Angesichts verdienen zu müssen.« Essen, ohne zu arbeiten, sei eine Sünde wider Gott,
aber wer müsste diese Sünde beichten?
Ich erinnere mich an den Gottesdienst vor 7 Jahren. Eine provisorische Tischkanzel hinter dem Werktor. Blumen davor.
Weitere Kostenlose Bücher