Urlaub fuer rote Engel
schildern.
»Damit du begreifst, dass es für uns keinen anderen Weg gab. Mein Großvater und mein Vater haben in der Grube gearbeitet.
Ich war im Schacht, das heißt, noch bin ich es, und meine Frau war über Tage beschäftigt. Und mein Bruder in der Grube und
seine Frau in der Spinnerei in Leinefelde. Auch entlassen. Die Grube und die Spinnerei, mehr hatten wir hier nicht. Wohin
also? Das Eichsfeld wird wieder ein Armenfeld. Das muss man doch auch bedenken, wenn man die Grube zumacht. Sense ist dann
hier, überall Sense!«
Die Puhdys beginnen mit ihrem Konzert. »Alt wie ein Baum …« Karin mit den sanften Augen und den nunmehr 16 Hungertagen fragt,
wie viel ich eingenommen habe. »640 Mark für eure Kasse.« Sie meint, dass sie das Geld bitter nötig brauchen werden. »Dieser
Kampf kann noch lange dauern.«
Und die von Vogel versprochenen Dauerarbeitsplätze? Darüber müsse sie nur lachen. Bestenfalls würde die Landesregierung ein
oder zwei Investoren, in die siealle Fördergelder pumpen würde, herholen. Und die würden die Leute wirklich drei oder vier Jahre beschäftigen, so lange, bis
sie genügend Fördergelder und Vergünstigungen abgeschöpft hätten. Und dann dichtmachen. Und die Dauerarbeitsplätzler entlassen,
denn kein Kapitalist würde sich doch darauf einlassen, dass er die Arbeiter für immer und ewig beschäftigen muss. »Und Vogel
oder ein anderer, was würde der dann mit den wieder arbeitslosen Dauerarbeitsplätzlern machen? Oder will man durch diese Exempel
hintenherum das Recht auf Arbeit in die Thüringer Verfassung mogeln?«
Ich sage, dass ich so weit noch gar nicht gedacht hätte. Sie lächelt: »Wir haben viel Zeit zum Nachdenken. Wenn wir auf der
Pritsche liegen.«
Lothar trägt Tisch und Stühle wieder hinüber ins Büro. Bringt mir die Quittung für die 640 DM. Keine großen Worte: im Namen
der Kumpels und so. Nur: »Danke, dass du hergekommen bist.«
Ich sage, dass ich später noch über das Eichsfeld und die Kumpels recherchieren werde. »Vielleicht in fünf oder sechs Jahren,
wenn alles zu Ende ist und niemand mehr über euch schreibt.«
»Egal, wie es ausgehen wird?«
Egal, wie es ausgehen wird.
»Spiel mir das Lied vom Tod!« II
Vergessenes Bischofferode
Bischofferode 1993, Bergarbeiterort im thüringischen Eichsfeld. Damals knapp 3.000 Einwohner, davon über 90 Prozent streng
katholisch. Am 1. Juli besiegelt der Fusionsvertrag, das heißt die Übernahme der ostdeutschen Kali-Konkurrenz durch die BASF-Tochter
»Kali und Salz« (mit Milliardensteuergeldspritze von der Treuhand belohnt), das Aus für die Kaligrube in Bischofferode. Am
gleichen Tag beginnen die Kumpel spontan mit einem Hungerstreik. 110 Bergleute und Sympathisanten kämpfen 78 Tage lang mit
diesem allerletzten Mittel gegen die Arbeitslosigkeit der 700 Beschäftigten und die Verödung der Eichsfelder Kaliregion.
Zwei Mal habe ich das »Lied vom Tod«, diese quäkende Harmonika-Klage, in Bischofferode gehört. Das erste Mal im September
1993, im dritten Monat des Hungerstreiks.
Ich stand unschlüssig, bis die Dunkelheit Förderturm und Betriebsschornstein verschluckte, Kinder Lampions vor dem Werktor
anzündeten und aus einem Lautsprecher die Menschenmenge zum nächsten Gottesdienst eingeladen wurde. Und danach plärrte plötzlich
das »Lied vom Tod« durch die Nacht. Auf den Liegen der Hungernden zu hören, in der Bergwerkssiedlung und wahrscheinlich auch
im zwei Kilometer entfernten Dorf Bischofferode. Aber alle sprachen damals noch vom Überleben.
Reichlich 7 Jahre später, das zweite Mal in Bischofferode,höre ich das Todeslied am »Fetten Donnerstag« auf der Kegelbahn des ehemaligen Betriebsklubhauses der Kumpel, wo die Kegler
des »VfB 1922 Bischofferode« trainieren. Sie waren in diesem Jahr in die erste Kreisklasse aufgestiegen. Im glänzenden Trainingsanzug
müht sich der 49-jährige ehemalige stellvertretende Betriebsratsvorsitzende Gerhard Jüttemann (»Ich habe früher in der Liga
gekegelt«) bei jedem Wurf um höchste Konzentration, aber seine Mannschaftskameraden spotten: »Gerhard, schlafen kannste im
Bundestag!« Der Zerspanungsfacharbeiter, der immer noch, wenn möglich, jeden Sonntag beim Gottesdienst betet, ist seit 8 Jahren
parteiloser PDS-Abgeordneter im Bundestag. Das wusste ich schon, bevor ich noch einmal nach Bischofferode kam. Was ich nicht
wusste: Im Eichsfeld wird der Donnerstag vor der Fastenzeit in Kneipen und auf
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