Urlaub fuer rote Engel
Neben
dem Geistlichen saßen die Hungerstreikenden. Wir sangen gemeinsam – auch ich Atheist! – alle Strophen von »Sonne der Gerechtigkeit«.
Was ist geblieben vom Stolz der Erhebung der »Müntzer«-Kumpel?
Pfarrer Klapproth wischt mit der bloßen Hand wieder und wieder über die Tischplatte. Sie ist nicht staubig. »Nun, heute, tja,
also, nun ja, eine neue Zeit.« Und er lacht. »Wahrscheinlich gibt es in Ostdeutschland keine so sauber aufgeräumte Industriebrache
wie die hier in Bischofferode. Mit dem Hungerstreik hatten sich die 700 Kumpel zwei Jahre Beschäftigung erkämpft. Die rissen
ihr Werk ab und machten danach alles besenrein.« Auch er hatte für Kirche und Friedhof eine ABM-Gruppe erhalten. »Ein Gottesgeschenk.
Sie werkelten überall und hofften, dass ich irgendwann keine Beschäftigung mehr für sie finden würde.
Eines Tages sagten sie triumphierend: ›Alles erledigt, Herr Pfarrer!‹
Ich: ›Was seht ihr dort an der Kirchenmauer?‹
Sie: ›Nichts.‹
Ich: ›Den Fugenputz. Und der bröckelt.‹
Seitdem glänzt auch die Kirchenmauer neu verfugt.«
Das sei die eine Veränderung nach dem Schließen der Grube. Und die andere? »Jeden Tag stehen meist diegleichen Gäste vor der Kirche hier. Ich verteile geschmierte Brote, Geld gebe ich keins. Aber sie wollen auch Geld für Zigaretten.
Einer kam einmal und sagte: ›Ich habe eine Überweisung zum Arzt in die Stadt, aber kein Geld für die Busfahrt.‹ Ich will seine
Überweisung sehen. Er sagt: ›Ich bin telefonisch überwiesen. Ich rufe den Arzt an, und der lacht mich aus. Ob ich immer noch
nicht begriffen hätte.«
Auf dem Weg vom Pfarrer zum ehemaligen Schacht bestaune ich die ordentlich gepflegten und erneuerten Mauern und Anlagen in
den Vorgärten von Bischofferode. Nur außerhalb, in den noch in der DDR gebauten Neubaublocks der Thomas-Müntzer-Siedlung,
glotzen mich auch schwarze leere Fensteraugen an. In einem dieser Blocks wohnen Renate und Günter Sturm. Nach meinem Besuch
bei den Hungerstreikenden hatte ich gesagt, dass ich wiederkomme. »Vielleicht in fünf oder sechs Jahren, wenn alles zu Ende
ist und niemand mehr über euch schreibt. Egal, wie euer Kampf ausgehen wird.« In einem Brief hatten sie mich nun an mein Versprechen
erinnert und über ihr Leben in der Thomas-Müntzer-Siedlung geschrieben, die man immer noch »Schacht« nennt.
Günter Sturm, Diplombergmaschineningenieur, arbeitete von 1961 bis 1991 im Kaliwerk unter Tage. Seine Frau war Lehrerin für
Geschichte und Geographie, später auch für Russisch. Aus ihrem Brief: »Manchmal überlegen wir, ob es richtig war, in Bischofferode
zu bleiben. Viele Familien sind weggezogen. Es wohnen vorwiegend Alte hier. Unsere zwei erwachsenen Kinder, obwohl unser Sohn
auch ein Studium an der Bergakademie Freibergabsolviert hat, leben nicht mehr hier. So ist es fast bei allen unseren Nachbarn und Freunden, die Kinder fanden keine Arbeit
und sind weggezogen. In der Schule hatten wir früher etwa 75 Schulanfänger. Im vergangenen Jahr waren es noch 15 …«
Weil es in Bischofferode keinen Tourismus und also kaum Fremdenbetten gibt, nimmt mich Gerhard Jüttemann nach dem Kegelabend
mit nach Hause. Er hat sich im Bergarbeiter-Nachbarort Holungen ein kleines Haus umgebaut und daneben ein fast so großes für
seine Zuchttauben aufgestellt. Den »Fetten Donnerstag« beenden wir bei ihm mit Eichsfelder hausgemachter Wurst und fremdgemachten
Erkenntnissen über die Hintergründe des Kalideals: Nach der Schließung der ostdeutschen Kaligruben stieg der niedrige Weltmarktpreis
für Kali (einer der »Gründe« für die »Uneffektivität« von Bischofferode) sofort wieder an. Die angeblich für den Welthandel
nicht benötigten Kalivorkommen der geschlossenen Grube im thüringischen Merkers wurden wenig später von Hessen aus abgebaut.
Die »Kali und Salz« machte, nachdem die östlichen Konkurrenzgruben dicht und die Milliarden der Treuhand verbraucht waren,
wieder hohe Gewinne. Ein Bundestagsausschuss bestätigte, dass durch »personelle Verflechtungen« die »Kali und Salz« schon
wenige Tage nach der Wende Vorbereitungen zur Übernahme des ostdeutschen Konkurrenten getroffen hatte. Aus dem bisher geheim
gehaltenen Tagebuch des in der Treuhand für die Kalifusion verantwortlichen Managers Klaus Schucht veröffentlicht der Spiegel:
»Nach Schneider [ein »Kali und Salz«-Vorstandsmitglied, L. S.] muss die deutsche Kaliindustrie in eine
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