Urlaub fuer rote Engel
trippeln vier steinalte Frauen hinauf zur Kanzel. Der Pfarrer richtet den Kopftuch-Mütterchen das Mikrofon, und mit lauter,
aber zitternder Stimme beginnen sie, in schlecht verständlichem Deutsch zu singen. Ich frage die neben mir stehende Frau:
»Russische Aussiedler?« Sie nickt und wischt sich die Tränen aus den Augen.
Direkt auf dem Platz neben der Halde haben inzwischen Fischbrötchenhändler, Bierverkäufer, Ponyreitunternehmer, Wurstbrater,
Rotkreuzhelfer, Buchhändler und Agitatoren begonnen, ihre Stände aufzubauen. Lotharschleppt mir Tisch und Stühle vom Organisationsbüro herüber. Ich postiere mich mit meinen Büchern nicht auf dem Kundgebungsplatz,
sondern am Weg dorthin. Dadurch werde ich nicht viel von den Ereignissen mitbekommen, aber die angekündigten 10.000 Menschen
müssen alle an mir vorbei. Und ich bin zum Bücherverkaufen und nicht als recherchierender Journalist nach Bischofferode gefahren.
Die Merkerser Kalikumpels kommen sehr zeitig. Ohne Fahnen. Aber der Betriebsratsvorsitzende hat ein »alles Scheiße« auf den
Lippen. Sie hätten den zweiten Bus wieder leer zurückschicken müssen. »Seit die Sozialpläne aushängen, fragen fast alle nur
noch, was sie kriegen werden.« Obwohl, wenn man ehrlich sei, richtig gekämpft hätten die Kumpels in den Kalibetrieben an der
Werra ja nicht. »Jeder freute sich nur immer, dass es die andere Grube und nicht die eigene erwischt hatte. Damit, so glaubten
sie, würden die eigenen Überlebenschancen steigen. Keine Spur von Solidarität. So konnten MDK und Kali & Salz an der Werra
ein Werk nach dem anderen dichtmachen. Wenn es Bischofferode nicht gewesen wäre, einer hätte der Erste sein müssen, der das
Zeichen zum Widerstand gab. Bei uns ist sie eben noch nicht reif gewesen, die Zeit dafür …«
Die Hochseefischer aus Rostock schwenken blaue Fahnen. Einer sagt zu mir: »Hast Glück, Scherzer, dass du nicht bei uns in
der Fischerei geblieben bist, dann wärst du heute auch arbeitslos. Aber wer schreibt, der bleibt. Oder kommt’s drauf an, was
du schreibst?«
Der nächste Bekannte ist der Betriebsratsvorsitzende von »der Kugellager« in Zella-Mehlis. Inzwischen zu Kugelfischer in Schweinfurt
gehörend. »Du kannst dirunsere Bude anschauen, modernste Technik, wir waren schon zu DDR-Zeiten besser als andere mit Westmaschinen ausgerüstet. Also
daran liegt es nicht, dass wir dichtmachen sollen. Aber weil der Markt wegen der Rezession nun eng geworden ist, da gibt’s
für die Zentrale in Schweinfurt nur eins: Die Aufträge, die dort im Hauptcomputer gespeichert sind, auch unsere, werden natürlich
zuerst an die Stammbude in Schweinfurt verteilt. Ich sage dir, das ist Manchesterkapitalismus pur, was die mit uns machen.«
Lange kann ich mich mit den Leuten nicht unterhalten, denn neben mir haben die Spartakus-Leute, ein junges, schönes Mädchen
ist dabei, ihren Agit-Stand aufgebaut. Und einem jeden, der stehenbleibt, egal ob bei mir oder bei ihnen, verkünden sie den
baldigen Zusammenbruch des Kapitalismus und den endgültigen Sieg des Sozialismus. Und verkaufen ihre Zeitung, in der sie von
Spartakistenerfolgen in Bischofferode berichten, so als würden sie von hier aus die Weltrevolution organisieren. Schreiben
von Spartakisten, die vor den Kalikumpels gesprochen hätten und denen große Sympathien entgegengebracht worden seien. Lothar
nimmt die Zeitung und sagt, sie wüssten doch wohl, dass nur einer von ihnen sprechen wollte, aber nicht konnte, weil die Kumpels
ihn daran gehindert hätten. Wichtig sei die Sache, entgegnen die Spartakisten, Hauptsache, es diene der gemeinsamen Sache.
Maoisten verteilen Flugblätter. Und die KPD schwenkt rote Fahnen. Und Tierversuchsgegner protestieren gegen die Chemiekonzerne.
Und Kaisertreue verkünden die Auferstehung der Monarchie. Und ein Worbiser CDU-Kreistagsabgeordneterbeschwert sich bei Lothar über die hiesige Ansammlung von linken Chaoten. Er hätte lieber mit seinesgleichen diskutiert. Obwohl,
wenn man erlebe, was die Konzerne hier im Osten in ihrer Profitgier anrichteten, dann könnte man glauben, die schlimmsten
Lehren aus den finstersten Marxismus-Leninismus-Lehrbüchern seien wahr.
Einer der Hungerstreikenden kauft sich alle vier Buchtitel von mir. Und legt für jedes Buch 5 Mark in die Streikkasse. Jetzt
hätte er Zeit zum Lesen. Und als ob er sich bei mir für den Hungerstreik rechtfertigen müsse, will er mir die Situation ausführlicher
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