Urlaub fuer rote Engel
Forderungen nach Schlechtwettergeld
in den Innenraum des Platzes der Einheit, in Sichtweite der Redner zu gelangen. Also warten sie auf der Straße, dort, wo Kohl
eintreffen soll. Aber Kohl kommt von der anderen Ecke. Sieht nur die ausgestreckten Hände. Zuerst spricht Vogel. Suhl erwähnt
er in zwei Sätzen. Die Jagdwaffe und die Simson-Fahrzeuge seien gerettet. Und auch Pilz werde man nicht hängenlassen. (Von
Pilz wird noch zu erzählen sein.) Kohl sagt einmal »schönes Suhl« und mehrmals »liebe Suhler«. Ansonsten lobt er die Einheit
und schimpft auf die PDS. Da pfeifen manche.
Die Bauarbeiter lassen inzwischen Luftballons vom Gewerkschaftshaus starten. Doch das Haus steht leider hinter der Tribüne.
Einer der Bauarbeiter brubbelt mittiefer Stimme, der Dicke da vorn erzähle was von Aufbau, er solle lieber mal rübergucken zu den »Sarajevo-Ruinen«. So nennen
die Suhler ihren 1972 gebauten Stadthallenkomplex heute. Eine runde, nach Leningrader Vorbild errichtete Stadthalle mit 2.250
Plätzen für Kultur- und Sportveranstaltungen. Dazu eine Schwimmhalle und das höchste Gebäude von Suhl, ein einundzwanzigstöckiges
Wohnhaus mit Café obendrauf. Von alldem stehen nur noch Stützpfeiler und Außenwände. Wie ausgebrannt. Für eine D-Mark hat
ein West-Investor den Komplex von der Stadt gekauft und bis auf die Außenhaut abgerissen. Er wollte das neue internationale
Kongresszentrum inzwischen längst einweihen, aber es dauert und dauert. Der kräftige Bauarbeiter – »Ich heiße Tilo Springer
und habe seinerzeit die gläserne Fassade der Stadthalle mitgebaut« – schimpft über den Betonmantel, den die Billigarbeiter
aus Portugal nun der Halle überstülpen. »Furchtbar sieht’s aus. Das einzig Positive: Die Halle ist jetzt ein paar Zentimeter
höher. Ist ja alles sumpfig hier, Suhl entstand nun mal aus Suhle, und folgerichtig hat die Stadthallentorte beim Abriss Auftrieb
bekommen. Im Keller könnte man jetzt Forellen züchten.«
Kohl redet über die starke D-Mark, die man nicht durch sozialistische Experimente gefährden dürfe. Die Bauarbeiter lachen.
Und einer der CDU-Leute neben mir zeigt wütend auf die Bauarbeiter und sagt, dass ganz Suhl schon wieder unterminiert sei.
Unterminiert, unterhöhlt von der PDS.
Das stimmt, Suhl ist unterminiert. Ein Beweis dafür steht unweit des Stadtzentrums: der 676 Meter hoheSuhler Hausberg, der Domberg. Unterminiert ist er seit Jahrhunderten durch die eisenschürfenden Suhler Bergleute. Genau wie
der Ringberg und der Dölberg, wo seit 700 Jahren Erz gefördert und zu Eisen verarbeitet wurde. Erst 1860 schloss man die letzte
Grube am Domberg. Das bedeutete allerdings nicht das Ende für die wichtigste Industrie der Stadt, die Waffenherstellung. Seit
fast 500 Jahren werden in Suhl Waffen produziert.
Und des Geschäftes wegen konnten die hiesigen Fabrikanten in den vielen Kriegen nicht nach Recht oder Unrecht, nach Moral
oder Unmoral fragen. Sie verkauften heute diesem und morgen jenem. Und sie verkauften nicht schlechthin Gewehre, sie verkauften
fast immer »Hightech«, wie es neudeutsch heißt. Nur einmal kamen sie zu spät, denn der Suhler Waffenbaumeister Schmeißer erfand
die Maschinenpistole erst 1918!
Sowohl die hennebergischen Grafen als auch die sächsischen Herzöge, denen Suhl zeitweise unterstand, liebten zwar die Waffen
der Stadt, nicht unbedingt aber den Geruch, den Rauch und den Schweiß in der »Waffenschmiede Suhl«. Die Stadt wurde nie Residenz,
kein Schloss wie in vielen Orten ringsum wurde hier erbaut, und 1815 bis 1945 gehörte die Proletarierstadt als Enklave sowieso
zu Preußen.
Und keine der »geadelten« Städte in der Nachbarschaft wollte mit dem »Schmuddelkind« Suhl spielen. Das tat dann der Arbeiter-und-Bauern-Staat,
der Suhl in den Rang einer Bezirksstadt erhob. (Keine Westnähe und Herzogsvergangenheit wie die ehemalige Residenz Meiningen,
dafür Arbeiterklasse!) Und um die geduckte Stadt im Tal für Institutionen, Straßen und sozialistische Neubautenzu öffnen, wurden große Teile der Altstadt abgerissen. Seitdem hat Suhl zwischen all seinen Neubauten nur noch museale Vergangenheitsinseln.
Aber die Stadt wuchs seit 1970 um über 20.000 Einwohner. Fremde kamen, um beim Aufbau der »sozialistischen Bezirksmetropole«
zu helfen. Und deshalb befindet sich heutzutage in der 55.000-Einwohner-Stadt das größte Wählerpotential Südthüringens auf
einem Fleck. Und deshalb müssen
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