Urlaub fuer rote Engel
und links steil ansteigenden Seitengassen
hinaufklettern. Im Tal, in dem die schieferverkleideten Häuschen wie blaugeschuppte Karpfen an den Stromleitungs-Angelschnüren
hängen, sind an die fünfzig Weihnachtsbäume aufgestellt und mit großen goldglänzenden Glaskugeln geschmückt. Ich zähle die
Kugeln am Baum und multipliziere. Rund 3.000 Christbaumkugeln. Alle in Einheitsgröße und in der Einheitsfarbe Gold. Oben am
Berg, in den engen Seitengassen, hier stützen sich die Blaugeschuppten solidarisch aneinander, sehe ich kaum noch goldbehangene
Bäume, dafür aber welche mit gläsernen Tieren, silbernen Zapfen, Geigen, Nüssen, Eiskugeln, Weihnachtsmännern, Teddybären.
Alle filigran und keine Kugel doppelt.
Ich frage einen alten »Lauschner«, weshalb unten hauptsächlich Einheitsgold und hier oben künstlerische Vielfalt zu sehen
ist. »Die goldenen Christbaumkugeln, das sind sozusagen die staatlichen Kugeln, die hat die Stadt drangehängt. Wahrscheinlich
noch Restbestände aus DDR-Zeiten. Maschinengeblasen. Und die anderen, das sind die individuellen. Jeder Glasbläser hat dafür
seine eigenen Muster.« Vor 100 Jahren hätte hier in jedem Haus mindestens ein Glasbläser gewohnt. An den Türen lese ich: »Kunstglasbläserei«
– »Glasschmuck« – »Glasatelier« –»Christbaumschmuck« – »Puppenaugenfabrikation« – »Glasmalerei« – »Herstellung künstlicher Menschenaugen« …
Ich klingele wahllos bei »Walter Hähnlein. Christbaumschmuck. Mundgeblasen und handbemalt«. Ein Mann mit wirrem, an den Spitzen
versengtem Vollbart, vorgebundener blauer Schürze, roten Wangen und Schweiß auf der Stirn öffnet. Er schüttelt den Kopf, nein,
heute hätte er keine Zeit, mir zu zeigen, wie die Kugeln geblasen und bemalt werden, geschweige denn mit mir darüber zu reden.
»Drei Wochen vor Weihnachten, kaum dass wir zum Essen, geschweige denn zum Reden kommen.« Aber dann redet er doch, zwar nur
kurz, aber er lässt mich nicht einfach vor der Tür stehen. »Meine Frau und ich waren zu DDR-Zeiten Heimarbeiter, haben Kugeln
für den VEB Lauscher Christbaumschmuck hergestellt. Den Betrieb, früher 1.200 Beschäftigte, hat die Treuhand an die Konkurrenz
aus dem bayerischen Rosenheim, die Firma Krebs, verkauft. Auch die hiesige Glashütte erhielt ein Westdeutscher. Und die Farbglashütte
wurde an einen Handelsmanager aus Hongkong, nein, kein Schlitzauge, verscherbelt. Und ich habe eben meine kleine Heimarbeiterwerkstatt
privatisiert, zu mehr reichte es nicht. Die Kugeln verkaufe ich meistens erst ab Herbst. Zuvor arbeiten und leben wir sozusagen
auf Pump. Und wer pumpt heutzutage einem Glasbläser was? 2.000, jeder zweite Einwohner von Lauscha, lebten vor der Wende vom
Glas. Heute vielleicht noch 500. Reich kannste nicht werden davon, aber leben kann man. Also, ich muss jetzt wieder.«
Er rät mir, die Technologie der Glasherstellung untenim Museum anzuschauen. Dort könne ich auch eine der armen alten Glasmacherstuben besichtigen, gleich am Eingang hätte der
einheimische Rudolf Hoffmann, der das Museum von 1950 bis 1990 leitete, solch eine Werkstatt eingerichtet.
Im Museum finde ich weder Anschauungsmaterial über die Glasherstellung noch die alte Glasmacherbude. Die Frauen am Einlass
tun verwundert.
Das müsste der Hähnlein doch wissen, dass dem Museum seit 1990 eine neue Direktorin, eine fremde Künstlerin aus Westberlin,
vorstehe. Und die stelle eben nur Glaskunst aus, keine soziale Glasbläsergeschichte. Im Verkaufsregal liegen teure Bücher
über Lauschaer Glaskunst. Für den symbolischen Preis von 1 D-Mark wird eine mit vielen historischen Aufnahmen versehene Broschüre
»Zur sozialen Lage der Werktätigen in der Lauschaer Glasindustrie unter den Bedingungen kapitalistischer Produktionsverhältnisse«
angeboten.
»Die stammt noch aus sozialistischen Zeiten, einige Besucher aus dem Westen haben uns schon vorgeworfen, dass es nie zur Einheit
des deutschen Volkes kommen könne, wenn wir hier immer noch solche kommunistische Propaganda vertreiben würden.«
Ich werde versuchen, über die Lauschaer Glasgeschichte ohne Verwendung des Begriffes »kapitalistische Produktionsweise« zu
berichten.
1597 hatten der schwäbische Glasmeister Hanß Greyner und der aus Böhmen stammende Christoff Müller im Tal des Lauschabaches
eine Glashütte errichtet. Sowohl die Hütte – die »Mutterglashütte Thüringens« – als auch die Familien der Greyner und
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