Urlaub fuer rote Engel
mütterlich war. Und Staatsmacht.
Am Telefon sagt sie mir, dass sie morgen in den Urlaub fahre. Parlaments- und Schulferien in Thüringen. Nachmittags müsse
sie zur Stadtratssitzung, also wenn, dann solle ich sofort kommen.
Leonhard-Frank-Straße 106. Eines der ersten Hochhäuser, das vor knapp 30 Jahren in Suhl gebaut wurde. 60 Fensteraugen. 10
Stockwerke. Sie wohnt im dritten. Führt mich durch ihre Wohnung direkt auf den Balkon, einen vielleicht 2 mal 1,20 Meter großen
botanischen Garten. Heckenrosen, Studentenblumen, Efeu, Asparagus, Begonien, wilder Wein, Nelken, Jelängerjelieber, Astern
… Ich stehe und staune. Sie genießt mein Staunen.
Das sei ihr Traum gewesen, seit sie vor vielen Jahren in Kiew einen lebenden Balkon gesehen habe. Aber zu DDR-Zeiten hätte
sie niemals wilden Wein bekommen, erst nach der Wende. Wilder Wein sei das Wichtigste.
Ich frage sie, weshalb jeder Dritte in Suhl die PDS und solche »Altlasten« wie Barbara Brenner gewählt habe.
»Vielleicht weil die Altlasten nicht agitieren, sondern Wanderungen und Kaffee-und-Kuchen-Nachmittage für die Alten und Dichterlesungen
für die Intellektuellen organisieren, vielleicht weil sie für die Hungernden in der Dritten Welt sammeln und mit den Arbeitslosen
sprechen.«
Ihre »Jelängerjelieber«-Kletterpflanze wäre in diesem Jahr schnell verblüht, sagt die Stadträtin, doch die kleinen Nelken
… Ich muss die Nase sehr dicht an die rosafarbenen Blüten halten, denn unten verpestet ein Motorkompressor die Luft mit seinen
Abgasen. Das Haus wird saniert.
Sie trennt sich vom Balkon und zeigt mir ihren neuen Computer. Mit 66 wäre ihr das schwergefallen, aber nun kenne sie sich
aus, würde für die alten Leute im Haus die Behördenbriefe schreiben. »Wir waren doch daran gewöhnt,bis 60 oder 65 zu arbeiten, und dann bekam man automatisch seine Rente. Jetzt aber, dieser Bürokraten-Überlebens-Schreibkram,
der ängstigt viele.« Dann würde sie noch einige sehr alte Frauen im Haus betreuen. Beispielsweise die Elisabeth Keyser, schon
über 80. »Ich schaue jeden Abend nach ihr, das ist sozusagen mein Nachtgebet.«
Aber wenn ich wirklich über das soziale Engagement der PDS schreiben wolle, sei ich bei ihr falsch. Da müsste ich mit der
Heide Schwalbe sprechen. Die habe als Vorsitzende des Jugendhilfeausschusses in der Stadt ein Kinderparlament gegründet, oder
mit der ehemaligen Pastorin Renate Müller, die 1990 in die PDS eingetreten sei, oder mit der Designerin Hayde-Nina Klonz,
die sich nun um Häftlinge kümmere und mit ihnen im Knast Bilder male, oder mit der Else Duske, die mit anderen Genossen jeden
Dienstag im Suhler Büro der Thüringer PDS-Vorsitzenden Gabi Zimmer sitze und dort Rentenantragsstellern Hilfe zur Selbsthilfe
gebe. Über 5.000 wären schon dort gewesen.
Sie erklärt mir noch, wie man Stecklinge vermehrt, dann muss sie ins Parlament. Zum Abschied der Rat: »Wenn du oben Schwierigkeiten
hast mit Informationen, rede mit den kleinen Leuten. Die reichen dich dann weiter, von einem zum anderen. Das funktioniert
noch.«
Am nächsten Tag fange ich ganz unten an, fahre noch einmal zum Hochhaus Nummer 106. Warte vor der verschlossenen Haustür,
weiß nicht, wo klingeln. Drücke dann den Knopf unten links bei Koch. Unten links wohnten zu DDR-Zeiten immer die Hausmeister.
Eine alte, etwas ängstlich blickende Frau öffnet. Ich hasple herunter,dass ich weder Vertreter noch Zeitungswerber oder Glücksspielverkäufer bin, erfahre, dass Frau Koch wirklich Hausmeisterin
war. Von 1972 an. Natürlich kenne sie die Frau Brenner. Die hätte allen vom Kaffeekränzchen bei den Rentenbescheiden geholfen.
»Unser Kaffeekränzchen, drei sind wir, alle um die 80, die Lilli Lindemann, die Hildegard Prenzel und ich. Wegen mir musste
die Frau Brenner bis Worbis schreiben, im Januar kam keine Rente und im Juli nicht.« Frau Koch weiß über alles im Haus Bescheid,
heute hätte die Frau Künzel im vierten Stock Geburtstag. Ich gehe hoch und gratuliere. Ja, die PDS, die denke an die kleinen
Leute. Obwohl sie weggefahren wäre, hätte die Frau Brenner ihr noch Blumen, eine Karte und einen Pralinenkasten vor die Tür
gelegt. »In welcher Partei sie ist, interessiert mich nicht, Hauptsache, ein Mensch.« Und der Mann ergänzt: »Und setzt sich
für das Wohl des Volkes ein, jawoll.« Sie wären beide in keiner Partei.
Auf der Treppe eine Frau mit Wischlappen und Wasser. Irgendjemand hat Ketchup
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