Uschi Zietsch
diesem Augenblick daran, dass sie einen furchtbaren Fehler begangen hatten. Der Wompet war zwar auch ein Tier, aber er war intelligent.
Kelric schlief die ganze Nacht hindurch und weckte Melwin am anderen Morgen; neben sich hörte er Fergon gähnen, bevor er sprach: »Nun wird es langsam gefährlich. Wir müssen uns vorbereiten.«
Kelric fühlte ein wenig Herzbeklemmung. »Wenn ich nur was sehen könnte!«, flüsterte er.
Wogryn murrte: Stell dich nicht so an! Hättest du meine Größe, wäre dir erst recht anders. Und ich fühle mich überhaupt nicht wohl. Ich ziehe es daher vor, ständig zu schlafen.
Der Tag verging quälend langsam. Melwin versuchte, Kelric mit Rätselraten aufzuheitern und abzulenken, aber als der weinende Wind begann, verstummte er in düsterer Grübelei.
Na ja , dachte Kelric tapfer, so lange es nicht schlimmer wird ...
Es wurde schlimmer, aber noch blieb es erträglich. Es war heißer Wind, der sie umpfiff und viele schreckliche Stimmen mitbrachte; ein Kichern und Stöhnen und das Flüstern von Verlockungen. Kelric verspürte den immer unwiderstehlicheren Drang, sich die Augenbinde vom Kopf zu reißen und endlich zu sehen, was ihn umgab. Eine ganze Zeit schon waren sie nicht mehr allein; er hörte es durch die Stimmen und fühlte, dass sie zwischen fremden Geschöpfen durchritten, die ihnen nicht wohlgesonnen waren.
Bibbernd flüsterte er: »Was ist das?«
»Still!«, wisperte Melwin eindringlich. »Sag kein Wort mehr und verschließe deinen Geist! Sie dürfen keine Macht über dich bekommen!«
Kelric schwieg fortan, aber seine Angst und die Sehnsucht, etwas sehen zu wollen, wuchsen schnell und seinen Verstand wie Efeu umschlingend an, und in aufsteigender Panik begann er an seinen Handfesseln zu zerren. Er stieß einen lauten Schreckensruf aus, als er eine Berührung an ein Arm spürte.
»Still!«, zischte Melwin dicht an seinem Ohr. »Ich bin es doch!«
Kelric seufzte erleichtert, denn wenn Melwin bei ihm war, konnte nichts mehr geschehen. Dennoch wurde er blass und drehte unruhig den Kopf umher, als das Stimmengeschwirr anschwoll und ihm wie eine Brandung gegen die Ohren schlug. Melwins Hand packte seinen Arm fester. »Auf die andere Seite, Fergon!«, drängte er. »Rasch! Sie merken, dass er ein Kind ist.«
»Geht nicht!«, wisperte der Ältere heiser. »Da ist etwas zwischen uns!«
»Oje!«, hauchte Kelric.
»Ich werfe ein Seil«, überlegte Melwin halblaut.
»Um der Götter willen, nein!«, warf Fergon erschrocken ein. »Das packen sie! Wir sind ja in Hörverbindung .... ich komme sobald wie möglich.«
Kelric verbrachte die langen Stunden bis zur Nacht in verkrampfter Erstarrung, denn er erwartete jeden Augenblick das Unheil, aber es geschah nichts bis auf den Wind voller Stimmen. Als es dunkel war, fiel der Junge ermattet vornüber auf seine Decke; er spürte, wie Wogryn über ihn kroch, und drückte das zitternde Tierchen fest an sich. »Bald vorbei«, flüsterte er ganz leise. »Bald vorbei.«
Er presste die Augen unter der Binde fest zusammen und vergrub den Kopf in Arme, Decke und Wompetfell, während ein Höllenlärm an Kreischen, Quietschen und Poltern um ihn herum ausbrach. Es waren wohl Geister, die sich über die Reisenden amüsierten und sie mit ihren scheußlichen Stimmen, Flüchen und Verhöhnungen und mit kleineren Handgreiflichkeiten wie Haarerupfen und Zwicken piesackten. Wogryn wimmerte, der Junge ebenfalls, der kleine Körper zitterte, das Gesicht war schweißnass. Er hatte nicht mehr die Kraft nach Melwin zu rufen, aber er fühlte sich diesmal nicht ganz so einsam wie im Wald, da er das kleine warme Pelzknäuel seines Tiergefährten bei sich spürte. Sein Pferd ging unbeeindruckt von all dem Lärmen ruhig weiter, und Kelric beneidete das Tier, während er festgeklammert obenauf saß, sich zu einer Winzigkeit zusammenigelte und endlich trotz des Schreckens in Schlummer fiel.
Kelric erwachte abrupt am anderen Morgen; für einen Augenblick konnte er sich nicht erinnern, wo er war und warum er nichts sah, und er kämpfte mit einem erstickten Schrei gegen die Stricke an seinen Handgelenken, bis er ganz zu sich gekommen war.
»Welch ein Alptraum!«, krächzte er rau; er hustete und schluckte krampfhaft, während die rechte Hand nach dem Wasserbeutel tastete, um die ausgedörrte Kehle zu benetzen. Eisiger Schrecken durchfuhr ihn, als er erkennen musste, dass sowohl der Wasser als auch der Nahrungsbeutel fehlten, und er wollte um Hilfe rufen, als das
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