Uschi Zietsch
hielt den Blick aber weitgehend auf Kelrics schmalen Rücken gerichtet. Melwin blickte starr geradeaus; es war nicht ausgeschlossen, dass er nichts wahrnahm.
Die Grenze von Hungerland war nicht mehr allzu weit entfernt, und die Pferde hielten bis zu ihrer Überschreitung durch, dann brachen sie unvermittelt zusammen und lagen mit aufgerissenen Augen und rasselndem Atem im kurzen Gras, die Flanken flogen, die roten Nüstern waren gebläht, und blutiger Schaum stand ihnen vor dem Maul. Fergon spürte Übelkeit in sich aufsteigen, als er die zuschanden gerittenen Tiere von ihren Qualen erlöste. Er musste gegen die bleierne Schwäche, die Nachwirkung des starken Zaubers, ankämpfen, als er rasch ein Lager bereitete, Kelric und Melwin (der immer noch aus starren Augen hochsah und ein ungewisses Grauen in ihm erregte) einigermaßen bequem niederlegte, bevor er seiner Erschöpfung nachgab.
6.
Im Nebelgebirge
Kelric wollte sich nicht mehr beruhigen, als Fergon ihm alles erzählt hatte. Der Junge hatte sich diesmal schnell von dem Schrecken erholt; zur Vorsicht gab Fergon ihm noch ein Mittel aus den übriggebliebenen Vorräten, das ihn vor Alpträumen schützen konnte, nicht aber das schreckliche Schuldgefühl nahm. Der alte Zauberer war selbst schwer mitgenommen in seiner Angst um Melwin, der regungslos auf dem Rücken lag, die Augen starr ins Leere gerichtet. Seit sie Hungerland hinter sich gelassen hatten, hatte er nicht gesprochen oder auf irgendwelche Berührungen reagiert. Fergon versuchte es mit den verschiedensten Beschwörungen und Sprüchen, machte magische Zeichen und ließ seine Kraft in den geradezu versteinerten Körper hinübergleiten, aber es half alles nichts.
»Wogryn sagt, wenn wir alle unsere Geister verbinden, können wir ihn zurückholen«, sagte Kelric am Nachmittag niedergeschlagen. »Aber dazu muss er erst wissen, wo Melwins Geist ist ... und ob der Wahnsinn ihn nicht ganz zerfressen hat. Dann können wir nämlich nichts mehr tun.«
»Der Wompet weiß also den Weg?«
»Ja, aber er kann es nicht allein tun. Er braucht uns beide als Kraftverstärkung.«
Fergon nickte. »Ein winziger Hoffnungsschimmer«, sagte er langsam. »Dank euch beiden. Ich könnte Melwins Geist suchen, aber weder erkennen, ob er wahnsinnig ist, noch ihn zurückholen, Nicht in diesem Fall, wenn Hungerlands Wahrheit an ihm zehrt ... hier haben wir schon immer versagt.« Seine Stimme wurde sehr leise. »Ich bete zu Gott, dass wir es schaffen. Der Junge ist sehr stark, und das ist meine einzige Hoffnung.«
Kelric ließ den Kopf hängen. »Wir sind trotz der Magie immer noch zu schwach gegen Lerranees Macht, nicht wahr?« flüsterte er.
»Wir sind Menschen«, erwiderte Fergon. »Wir sind keine Echten Zauberer. Wir vermögen viel, aber da ist ein grausamer Gott, der uns hasst ... und er bereitet uns viele Niederlagen.«
Kelric schwieg erschrocken. Er hatte nicht gewusst, dass es mehrere Götter gab auf dieser Welt, und obwohl diese Tatsache viele Fragen aufwarf, wusste er, dass jetzt nicht der Zeitpunkt war, diese Fragen zu stellen.
Kelric wartete, bis tiefste Nacht herrschte und er sicher sein konnte, dass der Zauberer und der Wompet tief schliefen. Vorsichtig verließ er sein Lager und kroch lautlos zu Melwin hinüber; Tränen stiegen in ihm auf, als er das schrecklich entstellte und verwüstete Gesicht des jungen Mannes sah. Kummer und Selbstvorwürfe nagten an ihm wie ein giftiger schwarzer Wurm. »Ich bin schuld«, wisperte er kaum hörbar. »Ich habe doch gar keine andere Wahl. Ich muss den Geist suchen ...« Mit überzeugter Entschlossenheit, die ihm Kraft gab und keine Gedanken über die Richtigkeit seines Tuns zuließ, entspannte er sich und schickte seinen Geist auf eine Reise, die er noch nie unternommen hatte. Er folgte Melwins Geistesströmungen, da er nicht wusste, wie er sich sonst orientieren konnte; oftmals wurde er in die Irre geleitet und kehrte wieder an den Ausgangspunkt zurück, ohne etwas erreicht zu haben. Er versuchte es mit einer anderen Linie und fand abermals nichts. Sein Körper zitterte unter der ungeheuren Anstrengung, der Schweiß rann in Bächen an ihm hinab, aber er spürte es nicht in seiner Versunkenheit. Nur ein fernes Gefühl von Verzweiflung erwachte in ihm, als er wieder und wieder zurückgeschleudert wurde, denn er wusste nicht, wie er die Widerstände überwinden sollte. Plötzlich jedoch geriet er an ein einzelnes Band, das ihn in einem gewaltigen Sog an sich riss und mit sich in
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