Uschi Zietsch
beginnende Grauen ihm jegliches Wort abschnitt.
Kein menschlich vorstellbarer Alptraum konnte dieses Entsetzen gebären, das nun um ihn war. Er hörte Stimmen von grässlicher Natur, die stöhnten, ächzten, seufzten, wehklagten und weinten, die flehten und sterbend hauchten; Stimmen von Wesen, die über den Boden krochen, humpelten, schlurfend dahintaumelten. Ein ganzes zu Höllenqualen verurteiltes Volk schien sich zusammengefunden zu haben, um die Reisenden um Hilfe und Linderung ihrer Not anzubetteln, um Mitleid zu heischen für die unvorstellbaren Schmerzen, die sie erleiden mussten, für die Entstellung und Verstümmelung ihrer Körper, für die Aussichtslosigkeit ihrer Lage. Aber sie klagten nicht in schrillen Rufen oder Schreien, sondern mit schwachen Stimmen in einer monotonen, dumpfen Klage, die mit dem Wind an und abschwoll und sich schwingend in den Verstand hineinfraß und alle Gedanken abtötete.
Kelric, der selbst unter Hunger, Durst und Angst litt, wurde beinahe wahnsinnig in dieser unvorstellbaren Hölle.
Wogryn konnte es nicht ertragen. Er fuhr plötzlich mit einem schrillen Pfiff hoch, riss sich kraftvoll von Kelric los und sprang in fiepender Panik vom Pferd. Die Klagelaute wurden zu einem kreischenden, boshaften Geschrei, und Kelric merkte, wie sie ganz nahe herankamen. Er stieß einen angstvollen Ruf aus und versuchte, sein Pferd anzuhalten, um seinem Tierfreund beizustehen, den er heftig kämpfen hörte. Die Stute scheute und riss an den Zügeln. Kelric kreischte auf, als klamme Finger sein Bein befühlten, die sich in seine Hose und sein Fleisch hineinbohrten und einen unbeschreiblichen Körper hochziehen wollten; er zerrte die Stute herum, die schrill wieherte und stieg, mit wirbelnden Hufen die Angreifer zu vertreiben versuchte, bis sie unter dem Ansturm niederging, und mit ihr Kelric. Es gab ein hässliches Knackenden und Splittern von Knochen, als er auf eines der Wesen prallte. Kelric spürte die scharfen Krallen von Wogryn, der in wildestem Entsetzen um sich schlug; an den Fesseln reißend erwischte er den langen Schwanz des Tieres und zerrte den Fiepsenden an sich.
»Kelric!«, brüllte Melwin. »O nein!«
Fergon, der hörte, wie er den Bann von den Händen löste, versuchte ihn an einer Torheit zu hindern, aber ehe er den jungen Mann erreichte, war dieser von seinem Pferd gesprungen. Fergon hörte ein weiteres Geräusch und rief: »Nicht die Augenbinde ...«, doch es war wohl schon zu spät.
Für einige Zeit herrschte Totenstille, selbst das Klagen war verstummt, und dann hörte Fergon den gellenden, wahnsinnigen Aufschrei des jungen Zauberers und den dumpfen Aufprall seines Körpers, während die Wesen wieder zu stöhnen begannen, diesmal jedoch in wilder Gier.
Der alte Zauberer zögerte keinen Augenblick. Er hob die Arme und begann einen gewaltigen Zauber zu wirken, der die höchste Ekstase in ihm freisetzte; rasch befreite er sich von seinen Fesseln und nahm die Binde ab. Bevor seine Augen sich an die Helligkeit gewöhnen konnten, lief er bereits dorthin, wo er Melwin ahnte. Seine blinzelnden, verschleierten Augen ließen keinen deutlichen Blick auf die Wahrheit zu, ihre Sehkraft reichte gerade aus, um schemenhafte dunkle Körper erkennen zu können. Während er rannte, warf Fergon explodierende Rauchkugeln um sich, die zusätzlich Sicht nahmen. Die Hungerwesen, durch seinen Zauber erstarrt, heulten vielstimmig in grauenvoller Klage auf, als der ältere Zauberer an dem zusammengebrochenen Melwin vorbeistürzte zu dem Jungen, der nur wenige Schritte entfernt lag, ihn und den Wompet hochriss und zu seinem Pferd brachte. Dann kehrte er zu Melwin zurück, der bereits wieder stand und den Zauber verstärkte. Fergon, der in seinem langen Leben schon sehr viel gesehen hatte, zuckte grauengeschüttelt zurück, als er mit zusehends klarer werdendem Blick den beginnenden Wahnsinn in dem verwüsteten Gesicht des jungen Zauberers sah. Energisch packte er Melwin und half ihm auf sein Pferd; er selbst stieg hinter Kelric auf, der in seiner Ohnmacht den bewusstlosen Wompet krampfhaft umklammert hielt, ergriff zusätzlich die Zügel von Melwins Pferd, schloss die Augen, murmelte einen Beflügelungszauber und stürmte los. Der Augenblick war nicht zu früh gewählt, denn die ersten Hungerwesen begannen sich wieder zu regen und krochen auf Kelrics Stute zu, die dem Schock erlegen war.
In vollem Galopp zogen die Pferde über das Land. Fergon wagte nur ab und zu, die Augen halbwegs zu öffnen,
Weitere Kostenlose Bücher