Uschi Zietsch
seine Gedanken erraten, sprach Melwin: »Ja, dies ist unser Reich. Kein Fremdwesen wagte sich jemals hierher, kein Gott schüttete seinen Zorn hierüber aus. Laïre ist ein heiliger Ort, wahrscheinlich das freieste Land von Lerranee. Es wurde vor Jahrtausenden unter unsäglichen Mühen und Entbehrungen erbaut, und die Zauberer gaben einem jeden Stein ein eigenes Leben, und als sie starben, vereinten sie sich in Laïres Atem. Wir alle, die wir hier leben und erzogen werden, sind bereit, jeden Preis für seine Macht und seine Lebenserhaltung zu zahlen, ohne jemals dafür spüren zu müssen, dass dies ein Gefängnis sei. Laïre ist wir, und wir sind Laïre. Es ist ein Riese, der sehr langsam wächst in seiner Unsterblichkeit, aber eines Tages wird es der Herrscher von Lerranee sein, ein König, der dient.«
»Und auch ich«, murmelte Kelric völlig gefangen, »werde ein Teil davon sein. Ich bin stolz, wenn ich meinen Atem geben darf.«
Fergon sagte leise: »Nun bist du schon ein Teil von uns, Kelric, denn wir spüren bereits deinen Pulsschlag. Und wenn deine Ausbildung beendet ist, wirst du ein Teil von Laïre sein und sein warmes Blut in allen Gebieten der Welt in dir fühlen; es wird dir Kraft und Trost geben.«
»Lerranee liegt vor dem Nebelgebirge«, schloss Melwin. »Laïre ist eine eigene Welt.«
Der Türsteher vor dem Haus von Lordmeister Marbon war ein Grau Mensch; er verbeugte sich leicht vor den Ankömmlingen und sagte lächelnd: »Herr Fergon und Herr Melwin, welch eine unerwartete Freude, Euch so bald und so gesund wiederzusehen! Mein Herr wird überrascht sein, wenn ich Eure Ankunft nach zwölf Sternenwanderungen Eurer Abreise bereits wieder melde.«
Fergon legte eine Hand auf Kelrics Schulter. »Dieser Junge war der Grund unserer vorzeitigen Rückkehr, Teng. Lord Sargon beauftragte uns, ihn herzubringen.«
Der Mann musterte Kelric ebenso wie der Junge ihn, der recht beeindruckt von Teng war: Er war groß und sehr muskulös, die Haut von kupferner Farbe, das kurze Haar steingrau wie die Augen. Der Kopf war mächtig, die Nase wie ein Schnabel gebogen, der Mund kräftig. Er trug eine weite lange Hose, und der nackte Oberkörper war mit kostbarem Schmuck behängt. Er trug keine Waffe.
Teng grinste den Jungen mit einem Pferdegebiss freundlich an und ging dann hinein, um dem Herrn Meldung zu machen.
Lordmeister Marbon war ein hochgewachsener Mann von unbestimmbarem Alter, der eine enorme Autorität und Würde ausstrahlte. In seinen weisen Augen lagen Güte und Wärme und jene ungewisse Tragik, die alle Zauberer so geheimnisvoll machte. Kelric stand schüchtern zwischen Fergon und Melwin und brachte kaum einen Ton zur Begrüßung heraus. Fergon übernahm es, alle Erlebnisse zu erzählen, und Lordmeister Marbons Augen ruhten währenddessen auf Kelric, der fühlte, wie ein fernes, stilles Vertrauen in ihm erwachte, gepaart mit noch unergründlichem Verständnis und Zuneigung.
Nach Fergons Bericht trat Marbon einen Schritt vor, und Kelric sah sich plötzlich ihm allein gegenüber.
»Du kannst Gedanken lesen?«, lautete die erste Frage.
»Ja, Herr. Wollt Ihr einen Beweis?«
»Nein. Ich lese in deinen Augen die Wahrheit. Kelric, ich möchte dich bitten, zu niemandem von deiner ungewöhnlichen Begabung zu sprechen. Es ist ein Geheimnis, das wohl gehütet werden muss. Kann ich mich auf dein Wort verlassen?«
Kelric wurde rot und neigte den Kopf. »J ja, Herr«, stotterte er. »Ich schwöre es.«
Marbon lächelte unmerklich. »Mein Junge, du tust es nicht umsonst. Ich selbst will dir all mein Wissen geben.« Er hob seinen Löwenkopf. »Ja, Fergon, was meint Ihr?«, fragte er.
Fergon räusperte sich verlegen. »Verzeiht, Lordmeister«, sagte er ehrerbietig. »Ich verlor die Beherrschung, aber ich war überrascht – freudig überrascht.«
Marbon musterte die beiden Zauberer. »Ich stelle eine starke Zuneigung fest«, bemerkte er.
Melwin nickte. »Ja, mein Lord. Kelric ist – ungewöhnlich und so sehr liebenswert. Dass Ihr ihn selbst ausbilden wollt ... mein Glück darüber findet keine Worte.«
Marbon lächelte nun offen. »Meine Freunde, ich glaube, Ihr zieht einen falschen Schluss. In Kelric schlummert eine Kraft, wie sie seit Jahrtausenden nicht mehr vorgekommen ist. Sie darf nicht in Laïre verschwendet werden, denn die Welt braucht ihn. Die Bedrohung wird immer größer. Nein, als mein Nachfolger käme nur ein Mann wie Ihr, Melwin, in Frage. Aber bis dahin vergehen noch fünfzehn Jahre, wenn
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