V wie Verrat
zum Mittagessen in der Stadt, was mir sehr gelegen kam, denn ich musste hier dringend raus.
Viktor würde vor Einbruch der Dämmerung nicht auftauchen, er war entweder auf dem Hausboot oder im Penthouse, also blieb mir mehr als genug Zeit, wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Ich duschte schnell und sah zu, dass ich wegkam.
In der Fußgängerzone war Alltagsbetrieb. Die Menschen gingen ihren Geschäften nach, taten all die normalen Dinge, die normale Menschen eben so tun. Ich setzte mich in ein Straßencafé, fühlte mich irgendwie fehl am Platz und beobachtete das Treiben mit einem Anflug von Neid. Keiner von ihnen hatte auch nur eine Ahnung, dass es neben ihrer Welt noch eine andere, verborgene, in der Nacht gefangene Welt gab. So war ich auch einmal. Früher. Es fühlte sich wie Ewigkeiten an.
Bis vor ein paar Stunden hätte ich eben diese Ewigkeit um nichts auf der Welt missen wollen. Nun brach sie langsam in kleine Stücke, zersprang in rasierklingenscharfe Scherben, die sich schmerzhaft und erbarmungslos in mein Herz bohrten.
... so sehr, wie du Katja geliebt hast?
Meine Kehle schnürte sich zu und aus der Tiefe stieg das bittere Gefühl von Verlust empor.
Nein. Nicht. Reiß dich zusammen!
Der Kellner hatte mich schon im Visier, kam mit besorgtem Blick auf mich zu. Schnell setzte ich ein geschäftsmäßiges Lächeln auf.
»Kann ich zahlen bitte?«
Er stutzte, zuckte dann die Schultern und gab mir die Rechnung. Da ich noch ein wenig Zeit bis zum Essen mit Lin hatte, bummelte ich an den Geschäften entlang und sah mir die Schaufenster an. Ich stand gerade vor der Auslage einer Buchhandlung, als ich in der Spiegelung der Scheibe ein Gesicht hinter mir sah. Ich schrak zusammen und fuhr mit wild klopfendem Herzen herum. Aber da war niemand. Dabei hätte ich geschworen, Pierre hinter mir gesehen zu haben.
Jetzt drehst du durch. Wie soll das denn gehen? Am helllichten Tag?
Trotzdem blieb das mulmige Gefühl. Meine Hände und Knie zitterten und wollten sich nicht beruhigen. Mit wackligen Beinen setzte ich meinen Weg fort, drehte mich immer wieder um.
So was Unsinniges! Hör auf damit! Du bist ja völlig durch den Wind.
Ich war heilfroh, als ich endlich am Restaurant ankam, da summte mein Handy. Eine SMS von Lin: ›Komme ein klein wenig später. Lauf nicht weg! Warte auf mich!!!‹
Grinsend schrieb ich zurück: ›Zu Befehl! Rühre mich nicht vom Fleck.‹
Allerdings hatte ich keine Lust, mich schon alleine hineinzusetzen, also ließ ich mich auf einer Bank nicht weit davon entfernt nieder. Die Sonne schien mir genau ins Gesicht. Ich schloss die Augen und genoss die letzten, warmen Strahlen dieses Jahres auf der Haut.
»Oh ja. Das tut gut. Nicht wahr, Cherie?«
Zu Tode erschrocken schoss ich von der Bank hoch und starrte auf den leeren Platz neben mir. Ich hatte Pierres Stimme gehört. Ganz sicher. Das war keine Einbildung.
Wie ist das möglich?
Hastig sah ich mich nach allen Seiten um. Keine Spur von ihm. Um mich herum nur ganz normale Menschen, die mich im Vorbeigehen ein wenig skeptisch musterten. Kein Wunder, bei meinem seltsamen Verhalten. Wieder summte mein Handy. Noch eine SMS, aber diesmal war es nicht Lin. Wie hypnotisiert starrte ich auf den Text, konnte nicht glauben, was ich las: ›Cherie, hast du etwa Angst vor mir? Aber vielleicht solltest du das auch. Man kann ja nie wissen, tout est possible. Vielleicht setze ich mich zum Essen zu euch beiden, zu dir und der bezaubernden kleinen Lin. Tres belle, ihr beide!‹
»Anna? Hast du einen Geist gesehen?«
Lin stand grinsend vor mir.
Mit flatternden Händen hielt ich ihr das Handy unter die Nase.
»Lies selbst.«
Ihr Lächeln gefror und in ihren Augen stand die blanke Panik, als sie wieder zu mir aufsah.
»Was soll das?«
Doch dann wandelte sich ihre Angst in Wut. Sie riss mir das Telefon aus der Hand und krampfte ihre Finger so fest darum, dass ich fürchtete, sie würde es entzweibrechen. Ihr Ton wurde immer schriller und lauter.
»Welches kranke Arschloch macht so was? Das ist nicht witzig.«
Ich zog die Augenbrauen hoch und fragte: »Glaubst du, das ist ein Scherz? Nein, das glaub ich nicht. Wer sollte das denn sein? Ich traue das niemandem zu, den wir kennen. Du etwa?«
Nachdenklich sah ich sie an. Lins Stimme wurde ganz klein und kindlich, als sie flüsterte: »Oh Gott Anna, aber wenn es kein Scherz war?«
Ich konnte nur hilflos die Schultern zucken.
»Was machen wir denn jetzt? Sollen wir den Jungs Bescheid sagen?«
Sie
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