V wie Verrat
elegante, strahlend weiße Fassade schimmerte durch die Bäume, aus denen man vergnügtes Vogelgezwitscher hörte. Kein Mensch wäre je auf den Gedanken gekommen, dass hier irgendetwas nicht normal sei.
Wir luden unser Sachen in Leas Wagen. Sie wollte gerade losfahren, da fluchte sie plötzlich und stieg wieder aus. Unter dem Scheibenwischer klemmte ein Zettel. Nach einem kurzen Blick darauf, zog sie die Augenbrauen hoch und gab ihn mir.
»Ich dachte, es ist ein Strafzettel, aber das ist ein Telefonnummer.«
Verwundert drehte ich das Blatt in den Händen. Es war nur die Nummer darauf zu lesen, sonst nichts.
»Und von wem ist das?«, fragte ich.
Lea zuckte mit den Schultern.
»Keine Ahnung. Ruf an. Dann wissen wir es.«
Ich tippte schon die ersten Zahlen ein, als mein Hände anfingen zu zittern.
»Anna? Was ist los?«
»Puh. Unbekannte Handynummern machen mich nervös. Hab ich dir die Geschichte mit Pierre nicht erzählt?«
»Doch. Dann gib es mir. Ich mach es.«
Lea nahm mir das Telefon ab, wählte, lauschte kurz und fragte überrascht: »Wer? Oh. Einen Moment bitte.«
Sie streckte es mir wieder hin.
»Für dich.«
Verblüfft nahm ich das Handy, presste es an mein Ohr.
»Ja?«
»Sind Sie Anna? Dann habe ich eine Informatione für Sie. Über Herrn Ivanov.«
Eine weiche Frauenstimme mit einem deutlich hörbaren italienischen Akzent erklärte mir kurz, dass sie eine Freundin von Gianna sei. Sie hatte in der besagten Nacht alles mitverfolgt, uns gestern beim Rausschleichen gesehen und danach das Dienstmädchen ausgequetscht.
»Sie suchen ihn doch, oder? Ich kann vielleicht Ihnen helfen.«
Mein Zittern verstärkte sich wieder, diesmal nicht aus Angst, sondern vor Aufregung.
»Er war sehr sehr- wie sagt man? Triste. traurig. Er wollte nach Hause. Er sagte, er muss denken und etwas herausfinden.«
Sie machte eine Pause.
»Was meinen Sie mit nach Hause? Wohin? Nach Deutschland?«
Ich konnte sie am anderen Ende lächeln hören.
»No Signora. Scusi, ich habe falsch gesagt. Ich meinte Heimat. Er wollte nach Russland.«
»Russland???«
Lea, die mich die ganze Zeit aufmerksam beobachtet hatte, riss die Augen auf.
Die Fremde sagte: »Ja Anna. Mehr ich kann nicht sagen und bitte - verraten Sie mich nicht. Gianna wollte nicht, dass wir uns mischen ein. In bocca al lupo. warten Sie, ich weiß - viel Glück!«
Ich dankte ihr herzlich und legte auf. Lea runzelte die Stirn.
»Du willst doch nicht etwa?«
Oh doch, ich wollte!
Lea redete mit Engelszungen auf mich ein, beschwor mich mit aller Kraft, es bleiben zu lassen. Aber letztendlich war es Raphael, der genau im richtigen Moment anrief und mich dazu brachte, meine Meinung zu ändern.
»Liebes - willst du einen alten Mann vor Sorge umbringen? Ich bitte dich! Komm nach Hause, wir finden eine Lösung. Wenn es nötig ist, begleite ich dich. Das verspreche ich dir.«
Raphael hielt seine Versprechen.
Also gab ich nach und wir fuhren zurück. Zuerst in Leas Wohnung, um ihre Sachen zu holen und dann mit dem Taxi weiter ins Zentrum. Diesmal hatten wir Glück und erwischten einen freundlichen, älteren Herrn, der für italienische Verhältnisse eine fast sanfte Fahrweise hatte und uns in Ruhe ließ.
Das schöne Wetter hatte alle Touristen aus ihren Zimmern gelockt, die Stadt brodelte und kochte. Eigentlich hatten wir noch eine Kleinigkeit essen wollen, aber es war unmöglich in einem der Cafés einen Platz zu bekommen. Frustriert gaben wir auf und nahmen den Leonardo-Express zum Flughafen. Dort kümmerte sich Lea zunächst um mein Ticket und wir zahlten einen maßlosen Preis für ein Sandwich, das mir doch nur im Hals stecken blieb. Danach mussten wir uns trennen.
Sie verschwand im Personalbereich und ich setzte mich nach dem Check-in in die Wartezone des Gates. Dort war es zum Glück noch sehr leer und ich machte es mir, so gut das eben möglich war auf einem Platz am Fenster bequem. Draußen rollten die Giganten der Luft langsam an mir vorbei, nahmen ihre vorgesehenen Positionen ein. Die durch die Scheibe lautlosen Vorgänge wirkten irgendwie beruhigend und glätteten das Chaos in meinem Kopf ein wenig.
Russland ...
Er war also zu seinen Anfängen zurückgekehrt? Und damit auch zu Katja. Das war schwer zu verdauen. Genauso, dass er ohne eine Erklärung, ohne sich zu verabschieden gegangen war. Je länger ich darüber nachdachte, umso seltsamer erschien es mir. Viktor war sicher kein einfacher Mann und wir hatten mehr als einmal um Sichtweisen oder
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