V wie Viktor
Familie? Dem Mädchen?«
Er lachte leise und bitter auf.
»Meine Familie ist schon lange tot, da gibt es niemanden mehr. Und sie habe ich nie wiedergesehen – bis gestern. In deinen Augen.«
»Was? Was meinst du damit?«
Ich richtete mich auf, drehte mich zu ihm um.
»Als ich dich gestern entdeckt habe, kam alles wieder zurück, was ich fast vergessen hatte. Du bist ihr so ähnlich und du weckst Gefühle in mir, die ich verloren geglaubt habe. Ich habe mich wieder wie 16 gefühlt und wie ein Mensch.«
Tränen liefen über sein Gesicht.
Dieser große, starke Kerl, der sich gerade, ohne mit der Wimper zu zucken, ein Messer quer über den Brustkorb gezogen hatte, weinte. Und er weinte meinetwegen. Ich legte meine Hand an seine Wange, wurde überflutet von Zärtlichkeit. Er sah mir ernst in die Augen.
»Ich habe so bitter bereut, sie zurücklassen zu müssen. All die vielen Jahren konnte ich sie nicht vergessen, meine erste große Liebe. Und dann, gestern Abend, habe ich dich gefunden. Es ist, als ob das Schicksal mir noch eine Chance geben will.
Als ob der Himmel mir einen Engel geschickt hätte. Ich will dich nicht auch verlieren! Aber ich musste dir doch die Wahrheit sagen …«
Die ganze Nacht hielten wir uns aneinander fest. Liebten uns, redeten, lachten und liebten uns wieder. Ich hätte noch mindestens tausend Fragen gehabt, aber irgendwann löste er sich von mir und trat ans Fenster, sah auf den Fluss.
»Ich werde dich heimbringen lassen müssen, die Sonne geht bald auf.«
Ich stellte mich hinter ihn, schlang die Arme um seine Brust und schmiegte meine Wange an seinen Rücken.
»Sag mal Viktor, wie ist das eigentlich mit diesen ganzen Dingen, wie Sonne, Kreuze, Knoblauch?«
Er drehte sich grinsend zu mir um.
»Den Knoblauch kannst du dir wohl selbst beantworten nach unserem Essen. Und mit Kreuzen habe ich nicht mehr oder weniger Probleme, als so mancher angebliche Christ. Mit UV-Strahlung und Silber sieht das anders aus. Das vertragen wir beides nicht sehr gut. Deshalb kann ich auch immer nur nachts mit dir zusammen sein.«
Traurig streichelte er meine Wange.
»Und ich vermisse dich jetzt schon.«
Ich kuschelte mich eng an seine Brust.
»Ich dich auch! Und wo bist du tagsüber? Doch wohl nicht in einem Sarg?«
Jetzt lachte er herzhaft.
»Du hast zu viel Horrorfilme gesehen. Nein, ich habe ein kleines Häuschen, das mit einem entsprechendem Schutz ausgestattet ist, dort verbringe ich meistens den Tag.«
»Kann ich denn dort nicht bei dir sein?«
Er hob mein Kinn an und küsste mich zärtlich.
»Noch nicht, mein Engel. Noch nicht. Ich werde dir alle Fragen beantworten, ich verspreche es. Jetzt müssen wir aber leider, sonst wird es knapp für mich. Und du willst doch nicht, dass ich vor deinen Augen verbrenne?«
Er hatte es scherzhaft gesagt, aber ich beeilte mich, so schnell ich konnte. Der Abschied fiel uns beiden schwer, wir standen lange eng umschlungen vor dem Wagen, bis der Chauffeur sich mit einem lauten Räuspern bemerkbar machte.
»Ok. Darius hat recht. Wir haben keine Zeit mehr.«
Ich klammerte mich noch fester an ihn.
»Können wir denn nicht zusammen fahren? Er kann ja zuerst dich absetzen.«
»Nein Liebling. Meine Art der Fortbewegung ist schneller. Mit dem Auto würde ich es nicht vor Sonnenaufgang schaffen.«
Schweren Herzen küssten wir uns noch ein letztes Mal. Er blieb am Straßenrand stehen, unsere Augen hingen aneinander, bis der Wagen außer Sichtweite war. Seufzend lehnte ich mich in den Polstern zurück und schloss erschöpft die Augen. Wirklich realisiert hatte ich das Geschehene noch nicht. Momentan befand ich mich in der Schwebe zwischen Schock, blinder Verliebtheit und totaler Übermüdung.
Plötzlich fühlte ich eine Hand an meiner Schulter. Erschrocken fuhr ich hoch und sah in das bullige, unbewegte Gesicht von Darius.
»Wir sind da. Sie sind eingeschlafen«, stellte er trocken fest.
Leicht desorientiert rappelte ich mich hoch, ließ mir von ihm aus dem Wagen helfen und stand nun unsicher auf dem Gehweg. Der Hauch eines Grinsens huschte über sein Gesicht.
»Soll ich Sie heute Abend hier abholen?«
»Ja Darius, das wäre wunderbar! Danke!«
Er tippte sich grüßend an die Mütze und klemmte sich wieder hinters Lenkrad. So wie er zuvor, sah auch ich dem Wagen noch lange nach, bevor ich mich entschließen konnte, nach oben in meine Wohnung, meine normale Welt zu gehen.
Ich kam nach einer Katzenwäsche gerade aus dem Badezimmer, als sich am Himmel
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