V wie Viktor
Wärme und das Licht waren Balsam für meine strapazierten Nerven. Außerdem beschützte uns das vor einem neuen Zusammentreffen mit Pierre, aber seine Helferinnen wurden dadurch nicht gehindert. Ich konnte nur beten, dass sie jetzt nicht auftauchten. Von draußen war aber außer Vogelgezwitscher kein Laut zu hören, weder Freund noch Feind. Wieder hatte ich einen Moment das Gefühl, nur eine Rolle in einem Film zu spielen, viel zu unwirklich war das alles. Es hätte mich nicht gewundert, wenn jemand »Cut« gerufen hätte und eine Filmcrew durch die Tür spaziert wäre. Diese absurde Vorstellung brachte mich kurz zum Kichern. Eigentlich war es alles anderes als zum Lachen, vor allem wenn man bedachte, mit wem wir es hier zu tun hatten. Nach allem, was ich bisher über ihn wusste, waren ›Skrupel‹ und ›Gewissen‹ Fremdwörter für Pierre. Und dennoch jagte mir der Gedanke an ihn, an dieses verführerische Lächeln, diese hypnotischen Augen, eine Gänsehaut über den Rücken und mein Körper reagierte vollkommen eigenständig. Die Vorstellung, er hätte statt Lins meinen Hals geküsst, trieb mir das Blut ins Gesicht und zwischen die Beine.
Wie mochte sich das anfühlen, wenn seine Lippen sich auf meine Haut brannten, seine Zähne sie leicht anritzten? Sich vorsichtig, langsam, sanft darin versenkten? Süßer Schmerz … Mein Blut durch seine Kehle floss, ihm alles offenbarte, mein innerstes Ich freigab? Konnte eine Vereinigung intensiver sein? Eine Steigerung gäbe es noch — wenn der Sex dazu käme. Wobei ich bei Pierre nicht an profanen Sex dachte, sondern an rauschhafte Gier, an grenzenlose Lust. Der Gedanke machte mich schwindelig. Ohne es zu merken, hatte sich meine Hand nach unten gestohlen, war in meine Hose gekrochen, in die feuchte, sehnsüchtige Hitze.
Himmel! Anna! Was tust du???
Mit einem Ruck zog ich die Hand heraus und betrachtet sie fast angewidert. Ich stand auf, erschrocken und verärgert zugleich.
Raus aus meinem Kopf!
Es war zum Verrücktwerden. Er war sogar jetzt präsent — im hellen Sonnenlicht.
Ich begann die Halle abzulaufen, zählte laut meine Schritte, nur um irgendwie beschäftigt zu sein, mich abzulenken. Hoffentlich kam Lin bald zurück, von draußen war immer noch nichts zu hören. Ich war gerade unter dem Fenster angelangt, als etwas meinen Kopf streifte. Mit einem panischen Aufschrei sprang ich zur Seite, in meiner Fantasie spielten sich die wildesten Szenen ab. Da hörte ich ihre Stimme: »Anna? Was ist los? Warum schreist du?«
Erleichtert sah ich hinauf und da hing meine Rettung! Ein Seil!
Ich liebe diese Frau!
»Lin, du bist einfach genial! Wenn ich draußen bin, knutsch ich dich ab!«
Sie lachte.
»Jetzt müssen wir dich erst mal raus kriegen. Denn ganz so einfach ist das nicht. Ich kann das Ende hier nirgendwo festmachen. Egal, versuchen wir es.«
Ich stieg auf die Bank, jetzt kam ich an das Seilende heran, zog es weiter zu mir nach unten, bis ich einen Widerstand spürte.
»Kann ich?«
»Ja! Ich mach mich so schwer, wie ich kann.«
Vorsichtig begann ich daran zu ziehen, mich daran hochzuziehen. Ein kleines Stück, noch ein Stückchen. Es klappte! Immer weiter, ganz sachte, Zentimeter für Zentimeter. Plötzlich ein Aufschrei, und bevor ich reagieren konnte, gab es nach und ich saß auf meinem Hintern.
»Shit! Verdammte Kacke, blöde!«
Lin fluchte wie ein Bauarbeiter.
»Das geht so nicht Anna. Ich bin zu leicht. Du ziehst mich nach oben.«
»Und jetzt?«
»Warte kurz. Ich hab ne Idee.«
Die Freiheit baumelt direkt vor meiner Nase hin und her, schien mich zu verspotten, mir die lange Nase zu zeigen. Draußen rumorte es kurz.
»Ok, versuch es jetzt.«
Aber auch der zweite Versuch scheiterte fast an der gleichen Stelle. Wir heulten beide enttäuscht auf. Das konnte doch nicht sein, es war doch zum Greifen nah. Aber auf Lin konnte ich mich verlassen, was auch immer sie sich ausgedacht hatte, ihre Stimme klang zuversichtlich.
»Jetzt klappt es. Halt das Seil ganz fest! Ich ziehe jetzt zurück.«
Ich wickelte mir das Ende ums Handgelenk und griff mit beiden Händen so fest ich konnte zu. Ein Ruck ging durch das Seil, riss mir die Arme nach oben. Doch gerade, als ich befürchtete, es würde mir die Schultern rausreißen, stoppte es, war straff gespannt.
»Jetzt Anna! Jetzt! Aber bitte mach schnell!«
Ihre Stimme klang gepresst, angestrengt. Hätte meine frühere Sportlehrerin sehen können, mit welchem Tempo ich da hinaufkletterte, ihr wären vor
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