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war erst später Nachmittag, da Lucille Frühschicht gehabt hatte – nahm er sie einfach bei der Hand und führte sie vom Strand fort. Dezent versuchte sie sich loszumachen, weil einer der Angestellten gerade einen neuen Karton Champagner aus dem Kühlraum hinter der Bar holte und seine Augen immer größer wurden, als er seine Kollegin Händchen haltend mit einem Gast davongehen sah, doch Richards Hand war wie ein Schraubstock.
Charmant lächelnd führte er sie mitten durchs Foyer des Luxushotels, in dem er residierte, während Lucille das Logo der Bar, das die Brusttasche ihrer Bluse zierte, mit ihrer freien Hand verbarg, was reichlich verkrampft wirkte. Das war Lucille im Grunde auch, aber die Tatsache, dass Richard von allen 700.000 Menschen in Acapulco sie begehrte – ausgerechnet die Einzelgängerin mit den Wilma-Feuerstein-Haaren –, ließ ihre Furcht davor, ihren Job zu verlieren, unbedeutend erscheinen.
Richard gab ihre Hand erst in der Suite frei – ein Traum in Cremeweiß, modern und edel eingerichtet –, durch deren getönte Fenster man über den Acapulco diamante blickte. Offensichtlich konnte er es nicht erwarten, mit ihr zu verschmelzen, denn im Schlafzimmer riss er sich förmlich das Hemd vom Leib, warf es in hohem Bogen fort und drängte Lucille gegen die Wand neben der Verbindungstür. Machohaft stützte er sich rechts und links neben ihrem Kopf ab und gab ihr Zeit, seinen Körper zu betrachten. Lucille staunte nicht schlecht, denn er trug ein Achselshirt aus Tattoos.
Unweigerlich musste Lucille an Gangsterrapper und Gefängnisinsassen aus Dokumentarfilmen denken und entschuldigte sich in Gedanken bei Richard für ihre Vorurteile. Noch nie hatte sie einen Menschen mit derart vielen Tätowierungen gesehen! Sie schmückten sein Sixpack und seine breite Brust. Eine Schlange wand sich bis über seine rechte Schulter, zusammen mit dem Stacheldraht auf der linken Schulter erweckte sie den Eindruck, Träger für das Tattoo-Shirt zu sein.
Vorsichtig streckte Lucille ihre Hand aus und berührte Richards Bauch. Ihre Handfläche glitt über die Landschaft seines Körpers, stahlharte Muskeln und Bilder, die sie erschreckten, als Lucille sie näher betrachtete. Fratzen kristallisierten sich heraus, Pistolen, Jagdmesser und Monster, denen Blut aus dem Maul rann, ein Drache mit einem riesigen weit aufgerissenen Maul, eine Spinne, in deren Netz menschliche Körperteile hingen, und dazwischen immer wieder Waffen: Säbel, Pfeile, Äxte, Macheten und Gewehre.
Der Richard, der sich hinter der Fassade des Geschäftsmannes verbarg, schien ein ganz anderer zu sein. Wilder. Obwohl die Tattoos Lucille beunruhigten, empfand sie gleichzeitig eine erregende Faszination. Ihre Neugier wuchs. Würde der Bad Boy genauso hinreißend sein wie der Charmeur, der sie in der Strandbar umgarnt hatte?
Lucille erinnerte sich an Carusos Bemerkung: »Sie hat ein Skorpionstattoo«, worauf Richard entgegnet hatte: »Ist es wie unseres?« Während ihre Hände die Wölbungen seiner Muskeln streichelten, suchte sie den Skorpion, aber er musste sich so gut zwischen den anderen Bildern verstecken, dass sie ihn nicht entdeckte.
»Recht martialisch«, meinte sie, als ihre Hand über ein Auge fuhr, dessen Pupille wie eine zerbrochene Scheibe aussah und blutige Tränen weinte.
Seine Stimme war ruhig, aber sein Brustkorb hob und senkte sich. Seine Hose wölbte sich im Schritt. »Das sind nur Abbildungen des Lebens.«
Mit den Fingerspitzen zeichnete sie das Wort nach, das in kunstvoll geschnörkelten Großbuchstaben über die Unterseite seines rechten Arms tätowiert war. » Guerrero , wie der Bundesstaat, in dem Acapulco liegt?« War er ein so großer Fan dieser Stadt an der mexikanischen Pazifikküste?
»Nein.« Richards Stimme wurde rau und dunkel. »Guerrero wie Kämpfer. Ich bin ein moderner Krieger.«
Sie wollte etwas sagen, doch er verschloss ihren Mund mit seinen Fingern und beruhigte sie: »Scht, du brauchst dich nicht vor mir zu fürchten. Wir stehen auf derselben Seite. Ich beschütze dich.«
Seine Worte machten Lucille weich und willig. Seitdem sie von ihrer Mutter zu Pflegeeltern gebracht worden war, hatte sie sich allein durchs Leben kämpfen müssen. Damals war sie erst fünf Jahre alt gewesen. Fünf! Der Kampf hatte sie stark gemacht, aber sie war auch müde, ständig Rückgrat beweisen zu müssen, und wollte sich endlich einmal fallen lassen.
Hoffnung keimte auf, dass Richard der Mann war, in dessen Arme sie sich fallen
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