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der höheren Mädchenschule, auf das weitere Leben total unvorbereitet, in den verschiedensten Fachbereichen »herumstocherte«, gab die gut geheizte Bibliothek der Kunstgeschichtler den Ausschlag, mich diesem Fach intensiver zu widmen. Vielleicht war es auch Rüdiger. Er war welterfahren, in einem Internat aufgewachsen und lebenstüchtig. Er war ganz anders als ich: Mit einem Vater, der mehr für seine wechselnden Freundinnen und seine Anwaltskanzlei lebte, und einer Mutter, die in Sozialarbeit für Gefängnisinsassen aufging, war ich zwar materiell gut versorgt, aber zum größten Teil mir selbst überlassen. Immerhin erinnerten sich meine Eltern zu Weihnachten und an den jeweiligen Geburtstagen an uns Kinder und schickten Schecks, die in unseren Sturm-und-Drang-Zeiten manche Wünsche in den Bereich des Möglichen rückten.
Ich bewunderte Rüdiger. Ungläubig und geschmeichelt reagierte ich auf sein Interesse für meine Person. Nachdem mehrere Kommilitonen, für die ich mich heimlich begeistert hatte, nicht die geringste Notiz von mir genommen hatten, kam mir dies vor wie der Hauptgewinn.
Ich war rundherum glücklich. Zum ersten Mal hatte ich das Gefühl, dass sich jemand tatsächlich für mich und mein Innenleben interessierte. Unsere Beziehung entwickelte eine Art Eigendynamik. Rüdiger wurde zu meinem Fixpunkt. An ihn klammerte ich mich; er bot mir Orientierung. Und so war es nahezu eine Selbstverständlichkeit, dass wir heirateten, als er nach seiner Promotion schnellstens auf eine ausgezeichnete Position am angesehensten Kunstmuseum in der Heimatregion seines Doktorvaters berufen wurde. Von meiner Magisterarbeit war nicht mehr die Rede. Wir widmeten uns entschlossen dem Aufbau einer klassischen Familienidylle. Aber: Zu meinem Entsetzen stellte ich fest, dass ich als Mutter im direkten Vergleich zur örtlichen Kontrollgruppe bedenkliche Defizite aufwies. Nach den ersten turbulenten Jahren als Mama begann ich, unter der intellektuellen Magerkost zu leiden. So kam ich zwangsläufig in Kontakt mit dem örtlichen Volkshochschul-Stellenleiter. Alles Weitere ergab sich automatisch. Ich begann zu unterrichten. Die Vergütungssätze sind für Berufstätige absolut uninteressant. So bietet sich für die VHS die Zusammenarbeit mit geistig wenig ausgelasteten Hausfrauen der Bildungsbürgerschicht an. Auf diese Art kommt die Volkshochschule zu ihren Lehrkräften und die Frauen bekommen die Gelegenheit, den angerosteten Geist wieder ein wenig zu ölen.
Meine Lieblingsecke in der Bücherei war frei. Ich legte meine Schreibsachen auf den Tisch, schlüpfte aus den Sandalen und ging in das Labyrinth der Regale, um mir die Wälzer zu holen, die ich nicht mit nach Hause schleppen wollte. Zurzeit konzipierte ich eine Unterrichtsreihe über Arbeitsrecht. Ein Thema, das gut vorbereitet sein wollte. Die Bücher Kommentar zum Kündigungsschutz , Abfindung und Steuerrecht sowie Kündigungsschutz für weibliche Arbeitnehmer im Arm, ging ich an meinen Platz. Und hätte um ein Haar den ganzen Stapel fallen gelassen. Was, um Himmels willen, machte der denn hier? Mit demonstrativer Lässigkeit und einem Lächeln, das meine Reaktion befriedigend zu finden schien, rekelte sich auf dem Stuhl gegenüber Markus, der Wolf.
»Hallo, meine Schöne, wie geht es dir? Du bietest hier ja ein tolles Kontrastprogramm.«
Er nickte in Richtung der strohtrockenen Lektüre, dann auf meine nackten Füße und Beine. Sein Blick blieb in meinem Ausschnitt hängen.
»Was führt dich denn hierher?«, stammelte ich.
Ich widerstand dem Impuls, meinen Ausschnitt zu verkleinern, indem ich die Bluse hinten herunterzog, legte die Bücher zwischen uns auf den Tisch und setzte mich. Er griff nach den stoffgebundenen Bänden und las halblaut die Titel vor. Kopfschüttelnd.
»Du steckst ja voller Überraschungen. Das hätte ich nicht von dir erwartet.«
Er lachte. Plötzlich ärgerte ich mich. Für was hielt der mich?
»Was hättest du denn erwartet? Kochbücher, Handarbeitsmuster?«
»Entschuldige, das klang wohl wie eine Macho-Bemerkung. Nein, ich meinte das langweilige Thema. Du bist anscheinend eine Frau mit ein paar mehr als den üblichen Gesichtern.«
Seine Stimme klang heiser. Die grauen Augen verschleierten sich und ich wusste, woran er dachte. Wie hypnotisiert erwiderte ich seinen Blick. Er trug ein kurzärmliges Jeanshemd, gerade so weit geöffnet, dass dunkle Haare zu erahnen waren. Er hielt den Blickkontakt aufrecht, ließ mich nicht los, während er
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