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einzelne Haare zu bewegen. Für einige Momente war ich ein Teil der Natur gewesen – nicht mehr denkender Mensch, sondern nur noch Nerven und Muskeln, die auf ein einziges Ziel zustrebten. Instinktgetrieben. Ich schüttelte den Anflug von Unbehagen ab und rieb mir über die Oberarme, auf denen sich der Hitze zum Trotz eine Gänsehaut gebildet hatte.
Später, als ich auf dem Beifahrersitz von Markus’ Wagen saß, lehnte ich mich zurück und schloss die Augen.
»Bist du erschöpft oder sauer?«, fragte er vorsichtig nach.
Ich betrachtete sein Gesicht. War da eine Spur Sorge in seinem forschenden Blick? Sollte er sich doch ruhig ein paar Gedanken machen. Auf einmal packte mich eine unwiderstehliche Müdigkeit. Ich gähnte ihn löwenmäßig an – zu kaputt, um mir die Hand vor den Mund zu halten. Er lachte.
»Es soll ja Vorkommen, dass man auf große Aufregungen mit Müdigkeit reagiert, aber deine Reaktionsgeschwindigkeit stellt alles in den Schatten. Halte noch ein bisschen durch, dann kannst du dich bei mir ausruhen.«
Seine große Hand tätschelte zärtlich mein Knie. Ich schlief nicht ein, verharrte aber in einem Kokon aus geistiger Abwesenheit, körperlichem Wohlbehagen und gedankenverlorener Sinnlichkeit. Von dem Parkplatz vor seiner Fabrik bis ins Atelier hinein ließ ich mich nahezu tragen. Ich sank auf die kühle, nach Waschmittel duftende Bettdecke. Im Halbschlaf registrierte ich, dass er mich aus meinen Kleidern schälte und meine schlaffen Glieder unter die Decke schob.
Kapitel 9:
Dr. Medicus
Als ich am nächsten Morgen erwachte, hatte Markus bereits begonnen, im Atelier zu arbeiten. Davon wollte ich ihn nicht abhalten. Wir verabredeten, dass er mich gegen Nachmittag bei mir zu Hause abholen sollte. Er rief mir ein Taxi und ich bat den Fahrer wohlweislich, mich ein paar Straßenecken vor unserem Hause abzusetzen. Ich freute mich auf ein herzhaftes Frühstück, aber ich hatte vergessen, Brot zu kaufen und die Milch hatte einen Stich. Derart in den Alltag zurückgezwungen, marschierte ich widerwillig zum Einkaufen. Im Supermarkt erinnerte ich mich daran, dass Rüdiger in fünf Tagen heimkommen würde.
Fünf Tage noch, Annette, handelte ich mit mir. Fünf Tage, in denen ich nur an mich denken wollte. Dann musste die Sache ein Ende haben. Solange ich sie noch beenden konnte – denn ich musste mir eingestehen, dass ich allmählich süchtig nach Markus und seinen Spielchen wurde. Ich fühlte mich so lebendig wie seit Jahren nicht mehr. Jünger, mutiger, sinnlicher – es wurde gefährlich. Das Phantom Amanda war auf dem besten Wege, die vernünftige, praktische Annette zu einer Randfigur verblassen zu lassen. Wollte sie das? Später, vertröstete ich mich und verwies die leisen Stimmen in die hinterste Schublade meines Gewissens. Später würde ich alles in Ruhe überdenken und eine Lösung finden. Ich wollte das Geschenk dieser Tage bis auf den letzten Moment auskosten.
Beschwingt kramte ich ein gewagtes T-Shirt aus den Schranktiefen, das zu tragen ich noch nie gewagt hatte. Der spitze Ausschnitt endete ein paar Zentimeter über dem Nabel. Ich würde darauf achten müssen, mich auf keinen Fall zu weit nach vorne zu beugen.
Als ich zu Markus ins Auto stieg und er mich verschwörerisch anlächelte, trübten keinerlei Bedenken mehr meine Vorfreude. Was hatte er sich wohl heute ausgedacht? Neugierig fragte ich nach seinen Plänen. Ein Schatten huschte so kurz über seine Züge, dass ich glaubte, ich habe ihn mir eingebildet. Da blitzte schon wieder das wölfische Grinsen auf.
»Geduld, Geduld. Du wirst auf deine Kosten kommen. Zunächst muss ich allerdings noch einen kurzen Krankenbesuch machen. Es wird nicht lange dauern. Du kannst mitkommen und auf mich warten.«
Wir fuhren einige Zeit über Land, eine ruhige, von Verkehr kaum frequentierte Gegend. Schließlich bremste Markus an einer nach rechts abbiegenden Kiesspur. Auf dieser knirschenden Unterlage holperte der Wagen zwischen hohen Hecken langsam auf eine große Villa zu. Ich erhaschte einen Blick auf eine unauffällig angebrachte Bronzetafel, konnte auf die Schnelle aber nur das Wort »Klinik« entziffern. So ähnlich hatte ich mir immer die Sanatorien für alkoholabhängige Mitglieder der High Society vorgestellt.
»Du kannst in der Empfangshalle auf mich warten, wenn du möchtest. Das ist doch angenehmer als im Wagen, oder?«
Ich ließ mich nicht lange bitten, denn das vornehme Gebäude weckte meine Neugier. Markus strebte durch die kleine
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