Vaclav und Lena
Küchentisch setzt, atmet sie tief durch und beginnt.
»Weißt du, was mit Lena passiert ist?« Vaclavs Gesicht verrät ihr, dass er nicht versteht, was sie meint. »Hast du gewusst, dass Dinge mit Lena passiert sind, die nicht schön sind?«
»Nein«, sagt Vaclav und denkt, vielleicht doch.
»Hast du gewusst, dass Lenas Tante sich nicht um sie gekümmert hat?«
»Nein.«
»Ich war mir nicht sicher. Ich dachte, vielleicht. Deshalb musste ich etwas sagen, weil ich mir Sorgen machte wegen Lena.« Rasia hat das Gefühl, dass dieses Gespräch sich in die gewohnte Wirklichkeit ihrer Küche einfügt und dass es damit leichter wird, über diese Dinge zu reden.
»Was hast du sagen müssen?«
|143| »Ich musste der Polizei einiges sagen.« Vaclav hat bei ihren Worten das Gefühl, dass seine Mutter verrückt geworden sein muss, der Polizei von diesen Dingen, die nicht so schön sind, zu berichten. Vaclav denkt an die nicht so schönen Dinge, die ständig an seiner Schule passieren, wie zum Beispiel, wenn der Sportlehrer alle anschreit, das Seil schneller hochzuklettern, oder wenn die Kinder in der Schlange vor dem Wasserspender sich gegenseitig anrempeln. Er malt sich große Polizeieinheiten aus, wie man sie im Fernsehen und in den russischen Nachrichten sehen kann, die auf den Gängen seiner Schule hin und her hasten und zu beenden versuchen, was nicht gut läuft.
»Warum hast du das gemacht?«
»Damit sie dafür sorgt, dass diese Dinge nicht mehr passieren.« Offensichtlich sind die Dinge, die nicht so schön sind, ernst genug, um die Polizei etwas anzugehen, denkt Vaclav bei sich.
»Im Augenblick findet die Polizei auch, dass Dinge passieren, die nicht schön sind, und deshalb haben sie Lena mitgenommen.«
»Was?«
»Sie beschützen Lena.«
»Wo ist sie?«
»Ich weiß es nicht. Ich gehöre nicht zu ihrer Familie. Mir sagt man nichts.«
»Wie finden wir heraus, wo sie ist?«
»Ich weiß nicht, ich kann die Polizei fragen. Ich weiß nicht, ob man es mir sagen wird. Sie sagt, man bringt sie irgendwohin, wo es sicher ist.«
»Wer ist bei ihr?«
»Niemand.«
|144| »Niemand?«
»Ich darf nicht mit, ich gehöre nicht zur Familie.«
»Und …«
»Und du darfst nicht mit, du gehörst auch nicht zur Familie.«
»Ist ihre Tante bei ihr?«
»Nein.«
»Warum?«
»Ihre Tante, sie hat sich nicht um Lena gekümmert.«
»Sie ist allein!«
»Ja.«
»Ruf ihre Tante an und frag, wo sie ist!«
»Ihre Tante weiß auch nichts. Niemand weiß, wo sie ist, damit sie sicher ist.«
»Lena möchte, dass ich es weiß! Warum darf ich es nicht wissen?«
»Niemand darf es wissen.«
»Ich bin kein niemand.«
»Ich weiß.«
»Wer passt auf sie auf?«
»Was?«
»Wer passt auf sie auf? Wer kümmert sich darum, dass es ihr gut geht?«
»Das machen irgendwelche Leute.«
»Was für Leute?«
»Ich weiß nicht.«
»Wo ist sie? Ich muss zu ihr hin. Sie ist allein, und sie hat bestimmt Angst, du musst es mir sagen!«
»Ich weiß es nicht. ICH WEISS NICHT. Es tut mir leid! Es tut mir leid!« Und jetzt wird Rasia klar, dass sie sich geirrt hat |145| und sich bei ihrem Gespräch mit Vaclav an den völlig falschen Stellen Gedanken gemacht hat. Wie jede Mutter befürchtete sie, ihren Sohn in Verlegenheit zu bringen und auch sich selbst und ihm nicht die richtigen Informationen geben zu können oder zu viel Informationen, die ihn erschrecken würden. Sie konnte nicht vorhersehen, dass Vaclav sich nicht auf die schlimmen Dinge konzentrieren würde, die Lena von Menschen angetan worden waren, die größer und mächtiger waren als er selbst. Er konzentrierte sich auf das sehr Schlimme, das Rasia ihm angetan hatte, nämlich ihm seine einzige Freundin wegzunehmen.
Vaclav hat nichts mehr außer seiner Wut
Als Vaclav am Montag zur Schule ging, wusste niemand von den Ereignissen des Wochenendes. Niemand wusste etwas von Lena oder Dingen, die nicht so schön waren, oder von der Tante oder von Rasia, die alles zerstört und die Polizei gerufen hatte. Niemand wusste etwas, und alles blieb gleich, nur entsetzlich.
Ms. Bisbano erkundigte sich wieder bei Marina und Kristina nach Lena. Sie hatten keine Ahnung, aber sie schienen sich keine großen Sorgen zu machen.
Vaclav dachte, sie würden vielleicht mit ihm reden und ihn fragen, ob etwas mit Lena passiert sei, doch nichts dergleichen.
|146| Manchmal kommen Leute einfach nicht mehr zur Schule. Wie Genesis’ Halbschwester, die früher kam, jetzt aber meist in Puerto Rico lebte und
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