Vaclav und Lena
sah es nicht so aus, wie sie es erwartet hatte, denn überall lag dort Müll verstreut. Auf dem Boden und auf den Sitzen lagen Kleidungsstücke, CDs, Getränkedosen und alles mögliche andere Zeug herum, es roch unangenehm, und der Aschenbecher quoll über von Zigarettenstummeln. Es gab einen winzig kleinen Rücksitz, was Lena nicht verstand. (Bei nur zwei Türen? Wie kam man da überhaupt nach hinten?) Auch auf diesem Sitz waren Kleidungsstücke und irgendwelche anderen Sachen.
Der Platz, auf dem Lena sitzen sollte, lag ebenfalls voller Zeug, und Lena wusste nicht, was sie tun sollte. Sie setzte sich an den Rand des Sitzes, sie wollte sich nicht auf die Sachen der Tante setzen oder irgendetwas durcheinanderbringen. Lena wusste, dass sie sich angurten musste, aber sie hatte Angst, sich von ihrem Platz wegzurühren, wo sie wie auf einer Hühnerstange saß. Sie hockte während der ganzen Holperfahrt auf der äußersten Kante, musste sich bei dem heftigen Hin und Her festhalten, dazu tönte laut Musik, und Lena wurde hungrig, aber gleichzeitig war ihr richtig übel. Es bedrückte sie, dass sie zu ihrer Tante kam, und schon jetzt vermisste sie Anna und sogar das Toast-Mädchen.
Was kann jemand wie Lena in so einer Situation tun? Was kann man tun, wenn man jung und klein ist? Wenn die Kleidung am Leib das Einzige ist, was man hat, dazu die eine Spange im Haar, die ständig verrutscht und in den Haarspinnen hinter den Ohren hängen bleibt? Wenn man kein Telefon hat und keine Telefonnummer, die man anrufen könnte? Selbst wenn man glaubt, jemand wie Anna könnte einem helfen, dass es einem |236| wieder besser geht, selbst wenn das so wäre, wie sollte man Anna anrufen? Wie sollte Lena es anstellen, aus der augenblicklichen Situation herauszukommen, die sie so furchtbar elend macht? Selbst als sie im Auto der Tante das Gefühl hat, dass sie fast überall auf der Welt sein möchte, nur nicht dort, wohin sie gerade fahren, was kann sie tun?
Lena hat sehr viel Angst, sogar vor ihren Tränen
Die Tante parkte das Auto in einer sehr hübschen Straße. Die Straße hatte viele Bäume mit farbigem Laub, und es gab einen Bürgersteig und Gras daneben und ringsum geparkte Autos. Das Haus der Tante war in zwei Hälften aufgeteilt, oben und unten, und die Tante (und jetzt Lena) wohnten im oberen Teil, sodass man Treppen hinaufsteigen musste, hinauf, hinauf, hinauf bis zur Eingangstür.
Die Tante suchte in ihrer Handtasche lange nach den Schlüsseln, wobei sie eingeklemmt zwischen der offenen Außentür und der richtigen Tür stand und herumwühlte. Schließlich nahm sie eine Packung Zigaretten heraus. Lena wusste, was das war, weil einige von Radoslavas Freundinnen geraucht hatten, wenn sie zu Besuch kamen, und Lena wusste, dass Zigaretten schädlich und für Kinder nicht geeignet waren, weil Radoslava ihr verboten hatte, sie auch nur anzurühren oder die heruntergebrannten, |237| schmutzigen Reste anzufassen, die Leute in ihren Teetassen und in den Glasschalen hinterließen, welche Radoslava auf den Tisch gestellt hatte.
»Halt mal«, sagte die Tante und reichte Lena die Zigarettenpackung. Lena überkam ein seltsames Gefühl. Eigentlich sollte sie keine Zigaretten halten, doch war sie auch froh, dass die Tante sie um etwas gebeten und mit ihr gesprochen hatte, das war gut, und sie war froh, dass die Tante ihr zutraute, die Zigaretten zu halten und nichts Dummes damit anzustellen.
Die Tante fand die Schlüssel und stieß die Tür auf. Sie trat ein, und Lena folgte ihr.
Lena tat zwei Schritte und blieb stehen. Yekaterina tat viele Schritte, ließ ihre Handtasche auf das Sofa fallen, ging in ein Zimmer und schloss die Tür.
Lena blieb stumm stehen und schaute sich um, weil sie nicht wusste, was sie nun anfangen sollte. Es sah genauso aus wie im Auto der Tante. Alles lag verstreut auf dem Boden. Zu viele Sachen von der einen Sorte und nicht genügend von der anderen. Es gab einen Teppich, der weiß war und heruntergetreten und der den Boden ganz bedeckte. Darauf waren lauter Flecken, Verschüttetes und Verfärbungen und kleine, tiefe, grauschwarze Löcher. Es gab eine große schwarze Ledercouch mit einigen Rissen, aus denen die weiße Füllung quoll. Vor der Couch stand ein Tisch mit einer Glasplatte, die bedeckt war mit Abfall, mit Büchsen, Gläsern und Aschenbechern und ein paar weißen Behältern, die Essen enthalten hatten.
Es gab auch eine Küche, die von dem Hauptzimmer nur durch eine Sichtblende getrennt war, und dort
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