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Vaclav und Lena

Vaclav und Lena

Titel: Vaclav und Lena Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haley Tanner
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vergehen, bevor die Tante Lena nach Hause holte. In Lenas Erinnerung war diese Zeit eine Zeit des Malens, weil sie ausgefüllt war mit Malen, so viel sie wollte, mit Papier, so viel sie wollte, Buntstiften, so vielen sie wollte, und sie gewöhnte sich an die Malstunden. Und es gab Mahlzeiten und Snacks, und manche verschwanden in ihrem Mund und manche nicht, je nachdem, wer zuschaute und wie mutig sie sich fühlte. Meistens durfte sie den ganzen Tag malen, und als am zweiten Abend Zeit war zu schlafen, kannte sie ihr Zimmer schon, und sie wusste, dass niemand sie stören würde und dass sie sich unter die Decke verkriechen und jederzeit das Bad benutzen konnte, und wenn sie aufwachte, würde sie wieder malen können.
    Am dritten Tag begann sie sich richtig wohlzufühlen, und freute sich auf den nächsten Tag, auf das Malen, darauf, sich darin so zu vertiefen, bis ihr Augen und Hände wehtaten. Alles, was sie an diesem neuen Haus geängstigt hatte, war ihr nun vertraut. Sie wusste, wo es Essen gab und wo man den Becher abstellte, wenn man ihn nicht mehr brauchte. Auch war jemand Neues erschienen, ein Junge, der jünger war als sie, aber größer. |233| Er hatte einen sehr runden Kopf, der runder war als jeder andere Kopf, den sie bislang gesehen hatte. Somit war nicht mehr sie der Neuankömmling, und sie war jetzt ein Mädchen, das sich an diesem Ort auskannte und dem es dort gut ging, und ihr war bewusst, dass der Neue, wenn er sie sah, sich unsicher und ängstlich fühlte und denken würde, sie müsste alles wissen, was auch stimmte.
    Dann kam die Tante. Lena hatte sie noch nie zuvor gesehen, aber Radoslava hatte von ihr gesprochen, und zum ersten Mal, seit sie Radoslava tot in der Dusche gefunden hatte, dachte sie an sie, die nun fort und tot war, und wie schön die darauffolgenden Tage bislang gewesen waren, das Malen und Essen, und alle waren so nett zu ihr, und sie konnte spielen und wurde in Ruhe gelassen, und sie dachte, wie froh sie war, dass ihre Babuschka tot war, und sie war bereit zu glauben, dass bei ihrer Tante alles noch besser würde.
    Von Radoslava wusste Lena, dass die Tante tanzte und Makeup trug, gern spätabends ausging und es sich gutgehen ließ.
    Als die Tante erschien, fühlte Lena sich sehr eingeschüchtert. Sie wollte etwas sagen, damit die Tante sie gern haben würde, aber ihr fiel nichts ein, und so hielt sie den Mund. Lena war gerade mit Malen beschäftigt. Doch die Art und Weise, wie die Tante auf das Malen schaute, machte Lena verlegen, und sie wollte aufhören und ihre kleinen, blassen Kreise verdecken, damit niemand sie sehen konnte.
    Die Tante benahm sich gar nicht so, wie Lena es erwartet hatte. Sie war nicht begeistert, lächelte Lena nicht an, begrüßte sie nicht richtig mit »Hi« oder machte wenigstens eine freundliche Geste.
    |234| Lena glaubte, irgendeinen Fehler gemacht zu haben. Sie fragte sich, wodurch sie die Tante verärgert, ja böse auf sich gemacht hatte. Es hätte wirklich schön sein können, bei der Tante zu wohnen, aber nun hatte sie es vermasselt. Sie hatte viele Fragen an die Tante, doch sie spürte, dass jetzt nicht der richtige Zeitpunkt dafür war. Sie hätte gern gewusst, wie die Tante mit ihr verwandt war und wie man eigentlich Tante von jemandem wurde.
    Die Tante und Anna redeten eine ganze Zeit lang miteinander. Die Tante füllte eine Menge Papiere aus, unterschrieb an verschiedenen Stellen, und Anna redete und nickte und lächelte sogar dann, wenn die Tante nicht lächelte.
    Dann kam die Tante zu Lena und sprach Russisch mit Lena, was für Lena eine Erleichterung war, denn sie hatte schon Angst gehabt, dass die Tante sie womöglich auf Englisch ansprechen würde.
    »Bist du fertig? Hast du alles dabei?« Lena nickte.
    Die Tante nahm sie bei der Hand, und sie gingen zum Ausgang, und Anna lächelte beide an, und Lena hatte das Gefühl, dass Anna irgendwie ein bisschen nervös war, und das wiederum machte Lena ein bisschen nervös.
    Die Tante hatte ein Auto, das vor dem Haus geparkt war. Radoslava Dvorakovskaya hatte nie ein Auto gehabt, und das Auto glänzte und sah neu aus (Es war silbern! Und winzig klein! Nur für zwei Personen!), und es sah schick aus, und Lena dachte, dass die Tante reich sein musste und noch viele andere schöne Dinge besaß wie dieses Auto. (Da hatte Lena noch keine Ahnung von Autos und Leasing und Freunden und Versicherungsbetrug.)
    |235| Die Tante ging auf die Fahrerseite und Lena auf die andere. Sie öffnete die Tür, doch innen

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