Vaethyr: Die andere Welt
Keine silbrigen Runen, kein Rumpeln der Erde, während die Tore sich mühsam öffneten. Alles, was er unter seiner Hand spürte, war kalter, undurchdringlicher Stein.
Tot.
Die Großen Tore waren tot.
Selbst das Lych-Licht in ihm, die Flamme des Torhüters, verlangte nicht mehr nach dem Stein. Zu lange hatte er es unterdrückt. Es war zu Asche verbrannt. Sämtliche Tore zu den inneren Reichen standen wie toten Schalen eine in der anderen. Fossilien.
Lawrence wich zurück.
Unvermittelt erfasste ihn panische Angst. Was war geschehen? Waren es seine Fehler, sein Versagen, das die Tore ausgelöscht hatte? War es von Dauer? War das Lych-Licht konfisziert worden oder hatte seine Angst es zerstört?
Im nächsten Atemzug fühlte er unbändige Erleichterung. Sie war so stark, dass er fast gestürzt wäre. Wenn er die Tore einfach nicht mehr öffnen konnte , dann fiel alles von ihm ab, die Schuld, die Verantwortung, die Gefahr für seine Söhne –
Nein, das war eine Illusion. Schwarz schwappte die Panikwoge wieder über ihn und zog ihm die Beine weg, sodass er auf die Knie fiel. Als er aufblickte, sah er eine junge Elfenfrau vor ihm stehen. Schlank wie eine Weide mit langem welligem Haar, sie war ein Geist, ein Friedhofsengel, dessen bröckelnder Steinfinger direkt auf ihn zeigte. Ihre Augen waren leere Kugeln ohne Pupillen. Als sie sprach, schnitt ihr Flüstern ihm ins Hirn: » Wir haben dich gewarnt, es würde dir genommen werden. «
Er schrie auf. Als er die Augen wieder öffnete, war sie verschwunden, ließ ihn allein mit seinem trostlosen Wissen zurück.
Der Verlust seiner Lych-Macht war der Verlust von allem. Solange er noch die Autorität besaß, die Tore geschlossen zu halten, hatte er die Kontrolle. Aber ohne die Macht, sie zu öffnen oder zu schließen, hatte er nichts mehr. Kein Mandat vom Spiral Court. Keinen Status. Nichts.
Nachdem seine Panik ihren Höhepunkt erreicht hatte, verebbte sie. Zitternd rappelte Lawrence sich auf und schloss einen Pakt mit sich: Keiner durfte erfahren, dass er seine Macht verloren hatte. Denn das wäre das Ende von allem. Er musste so weitermachen, als wäre alles beim Alten. Keiner brauchte es je zu erfahren.
Drei Jahre.
So lange saß Sam ein, bis seiner Entlassung auf Bewährung stattgegeben wurde. Selbst ohne die Zeitverbiegungen und Täuschungen von Dumannios waren es für ihn gefühlte volle fünf Jahre gewesen.
Er trat aus den Gefängnistoren und atmete die frische Septemberluft ein. Seltsam. Fast eine Enttäuschung. Immer hatte er sich auf seine Entlassung gefreut, jetzt empfand er nichts. Er hatte nur wenige Habseligkeiten, und das Einzige, was davon wirklich Bedeutung für ihn hatte, war das Foto, das Rosie ihm gebracht hatte. Er bewegte sich auf die Bushaltestelle zu.
Ein blauer VW-Golf parkte nur wenige Meter weit entfernt. Er dachte sich nichts weiter dabei, bis Rosie sich plötzlich herauslehnte und winkte.
»Was ist, willst du nicht einsteigen?«
Während der Fahrt war sich Rosie der Präsenz des neben ihr sitzenden Sam nur allzu bewusst. Gegen seine physische Anwesenheit, seine Kraft, den zarten Hauch würziger Wärme, die sein Körper verströmte, schien ihr logisches Denken machtlos zu sein. Doch sie nahm auch den Gefängnisgeruch wahr, der ihm anhaftete. Sie saß angespannt und höchst unbehaglich am Steuer und wusste nicht, was sie sagen sollte. Bisher hatte sie ihm den Vorfall verschwiegen, dessen Zeugin sie im April geworden war. Alles, was sie gesehen hatte, war ein Kuss zwischen Jon und Sapphire, und wer weiß, was sie für einen Sturm entfesselte, wenn sie es erwähnte? Gleichzeitig wurde sie von fürchterlichen Schuldgefühlen gequält, weil sie Sam diese Information vorenthalten hatte, und das erhöhte ihre Nervosität nur noch.
»Du hast doch nicht etwa Angst vor mir, oder?«, fragte er.
»Nein, natürlich nicht.«
»Und was sollen diese glänzenden weißen Fingerknöchel?«
Sie versuchte ihre Hände auf dem Lenkrad zu entspannen und ärgerte sich, dass ihm offenbar nichts verborgen blieb. »Es ist komisch, mehr nicht.«
»Ja, wenn ich einen verurteilten Mörder frisch aus dem Gefängnis neben mir sitzen hätte und auch noch mitten im Nirgendwo – da wäre ich auch nervös. Sorry. Ich wollte den Bus nehmen, denn ich hatte nicht mit dir gerechnet. Du brauchst dich nicht unbehaglich zu fühlen. Ich bin es doch nur, Rosie. Und alles, was ich jetzt will, ist, nach Hause zu kommen.«
»Ich weiß«, zischte sie. »Ich bin nicht nervös.
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