Vaethyr: Die andere Welt
weglaufen. Ich traue mich nicht, es jemandem zu erzählen, nicht einmal Dad.«
»Und was ist mit Jon?«, fragte sie. »Ich dachte, er wäre der Erste, dem du dich anvertraust.«
Lucas schüttelte den Kopf. »Im Moment nicht, er ist nicht in der entsprechenden Geistesverfassung. Ich wage mir gar nicht vorzustellen, was er machen würde. Ich weiß, dass er einen auf die Palme bringen kann, aber ich mache mir trotzdem Sorgen um ihn.«
»Ich weiß«, sagte Rosie. »Offenbar verschließt er die Augen davor, dass er richtig tief im Schlamassel steckt. Als Lawrence ihn rauswarf – bist du dir sicher, dass es dabei nur um die Tore ging und nichts mit Sapphire zu tun hatte?«
Lucas zuckte zusammen. »Definitiv die Tore. Lawrence weiß nichts.«
»Hat er wirklich keine Ahnung davon, dass er mit seiner Stiefmutter herumknutscht?«
»Du bist deswegen noch immer sauer, oder?«
»Nein«, sagte sie. »Nur verblüfft. All die Mädchen oder Jungs, die er hätte haben können …«
»Du verstehst das nicht. Es ging immer nur von Sapphire aus.«
»Hat er dir das erzählt?«
»Er war ganz ehrlich zu mir. Sie hat sich ihn gegrapscht, als er sechzehn war, und er wusste nicht, wie er sich dagegen wehren sollte. Wäre sie ein Mann, müsste man gar nicht darüber nachdenken und würde es Missbrauch nennen.«
»Sechzehn?« Rosie schwieg entsetzt. Das erklärte alles. Ihr wurde übel. »Natürlich. Deshalb ist Sapphire ständig um ihn herum. Und das ist auch der Grund, weshalb er sich weigert, sie zu sehen.«
»Du hast es kapiert.«
»Oh«, stöhnte sie und ihr Herzschlag beschleunigte sich. »Sam weiß nichts davon, oder? Ich habe es nicht wahrhaben wollen und redete mir ein, dass es bloß ein Kuss war, und ich habe auch kein Wort darüber verloren, weil es mich ja auch wirklich nichts angeht. Wenn er es gewusst hätte, dann hätte er schon längst den Kampf gegen sie aufgenommen.«
Lucas’ Augen glänzten erschrocken. »Du darfst es ihm nicht erzählen! Ich musste ihm versprechen, das für mich zu behalten, aber bei so etwas – das ist zu viel.«
»Na toll«, seufzte sie. »Noch so ein verdammtes Geheimnis.« Sie sah sich mit diesem Wissen in Sams Armen liegen, ohne es ihm sagen zu dürfen … »Ich kann es nicht vor ihm geheim halten, Luc! Oh, keine Sorge, ich tue es nicht. Aber wenn Sam dahinterkommt, dass ich Bescheid wusste, ohne ihm was davon zu sagen – dann kann ich gleich ins Kloster gehen, was?«
Lucas grinste müde. »Wir könnten uns auch gemeinsam durch die Tore davonmachen. Und keiner würde je erfahren, wo wir hingegangen sind.«
»Verlockend.«
Sein Lächeln verblasste und er sah sie fragend an. »Aber mal im Ernst, was sollen wir tun?«
»Schlafen«, meinte Rosie. »Morgen sieht alles schon wieder anders aus. Sagt man jedenfalls.«
Alastair kam in dieser Nacht nicht nach Hause. Auch am nächsten Morgen war nichts von ihm zu sehen. Es war Samstag, und so hatte Rosie zwei Tage Schonfrist, zwei Tage, um die Wogen so weit zu glätten, dass sie alle – einschließlich Sam – am Montag wieder zur Arbeit erscheinen und sich zivilisiert benehmen konnten, ohne sich den Zorn ihres Vaters zuzuziehen, weil seine wichtigsten Leute fehlten, und das alles nur – sie schloss vor Scham die Augen bei der Vorstellung, dass alle es erfuhren –, weil sie und Sam nicht voneinander lassen konnten.
Ein hoffnungsloser Fall.
Rosie legte sich das Kristallherz um den Hals, das gab ihr Sicherheit, weil es sie an ihren Vater erinnerte. Dann schaltete sie ihr Mobiltelefon ein und fand ein Dutzend Nachrichten von Sam vor, eine dringlicher als die andere.
BIST DU O. K.?
Bitte ruf mich an.
Schalt dein blödes Handy ein!
Was passiert da, Rosie?
Lass mich einfach wissen, dass bei dir alles o. k. ist …
Sie wählte seine Nummer. Er ging beim ersten Klingeln dran. »Rosie?«
»Ich habe mit Alastair gesprochen.«
»Wie war es?«
»Schrecklich.« Sie presste die Fingerknöchel an ihre Stirn. »So schlimm, wie es nur sein konnte.«
»Ach herrje. Ist mit dir alles in Ordnung, Schatz?«
»Ja.« Sie hatte einen Kloß im Hals und versuchte daran vorbeizuschlucken. »Er möchte alles vergeben und vergessen. Glaubt, wir könnten einfach so darüber hinweggehen, als wäre es nie geschehen.«
Sam wurde ganz still. Sie spürte seine Angst wie eine kalte Welle durch den Äther. »Und was hast du darauf geantwortet?«
»Ich habe Nein gesagt, ihm erklärt, dass es nicht funktionieren kann und ich einen Fehler gemacht habe, als ich ihn
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