Vaethyr: Die andere Welt
Es war ein Raum mit hoher Decke und einem Esstisch, Tiffanylampen auf einem Sideboard, die aber nicht eingeschaltet waren, und bleiverglasten Fenstern. Das Licht drang durch Glastüren am anderen Ende. Vorsichtig bewegte sie sich darauf zu und lauschte angestrengt, als sich das Gemurmel als der Gesang einer jungen Männerstimme entpuppte.
Keiner bekam mit, dass Rosie den Dachterrassenwintergarten betrat, diese Laube aus Licht, Stein und Glas. Es war eine Versammlung aller Elfenwesen ohne die menschlichen Gäste. Sie hatte alle ihre Masken aus den Gesichtern geschoben, die nun ihre Köpfe krönten, sodass man den Eindruck bekam, einer Versammlung von Göttern mit Tierköpfen beizuwohnen. Ihre Gesichter glühten und in den Augen spiegelte sich das Edelsteinfeuer ihres nicht menschlichen Erbes.
Palmen und Farne warfen Schatten im Zauberlicht der Lichterketten aus Hunderten weißer Lämpchen. Die Luft war weihrauchgeschwängert. Rosie war wie gebannt, als wäre sie in einen Traum versunken.
Ein vor einer Wand errichtetes und hell angestrahltes Podium zog ihre ganze Aufmerksamkeit auf sich: Jonathan Wilder rezitierte dort ein Gedicht.
Ich bin ein Hirsch mit Siebenender-Geweih
Ich bin die wilde Flut in der Niederung
Ich bin der Wind auf tiefen Wassern
Ich bin ein Falke auf einem Felsen …
Etwas derart Eindringliches hatte sie noch nie vernommen. Mit der über seinem Kopf aufragenden Falkenmaske hatte Jon nichts Irdisches mehr. Sein hübsches Gesicht und die ernsten braunen Augen glänzten leidenschaftlich. Sein langes welliges Haar, im Braunton gebrannter Haselnüsse, fiel anmutig auf seine Schultern herab.
Rosie war ganz benommen. Das war mehr als nur ein Traum. Sie hatte die Schattenreiche betreten und war jemand anderer geworden. Wie hatten die anderen alle hierhergefunden – hatten außer ihr alle Bescheid gewusst?
Doch darauf kam es nicht an, nur Jon zählte. Sein Gesicht und die braunen Augen, gerahmt von dem sanft bewegten Haar fesselten sie. Er dürfte jetzt fünfzehn oder sechzehn sein, und seine jugendlich weichen Züge erinnerten an einen androgynen Heiligen auf einem Renaissancegemälde.
Rosie verliebte sich.
Sie beobachtete seine langen, flinken Finger, mit denen er das Gesagte betonte, und fragte sich, wie es sich wohl anfühlen mochte, von ihnen berührt zu werden. Und sie musste wieder an den Blick denken, den sie als Kinder gewechselt hatten. Sam hatte sie bedroht, aber Jon hatte helfen wollen und hätte dies auch getan, wäre er älter gewesen. Endlich wusste sie, was dieser Blick bedeutete.
Das Wiedererkennen verwandter Seelen.
Hatte Sam sie gerade zunichtegemacht, so richtete Jon sie jetzt wieder auf. Sie zitterte und ihr Herz raste. Als der Gesang zu Ende war, fiel Jons Blick mitten durch die Menge auf sie und er lächelte sie kurz an. Es reichte, um gleichermaßen ihre Verlegenheit und ihre Hoffnung zu schüren. Das musste sie unbedingt Faith und Mel erzählen, aber sie waren nicht hier, und so kostete sie den Schmerz aus, ein Geheimnis für sich behalten zu müssen. Ihr ganzes Wesen knisterte prickelnd wie rotes Feuer.
»Und jetzt möchte mein Vater zu euch sprechen«, sagte Jon ruhig und räumte das Podium.
Rosie überlegte, ob sie es wagen sollte, ihn anzusprechen. Aber es wäre viel zu plump, wenn sie sich jetzt ihren Weg durch die Menge bahnen würde. Nein, das wäre ja gerade so, als würde man inmitten einer feierlichen königlichen Zeremonie mit einem Prinzen plaudern wollen. Unmöglich.
Lawrence betrat das Podium. In der Menge wurde es ganz still. Rosie veränderte ihre Position, um besser sehen zu können, und entdeckte ihre vorne stehenden Eltern. Bisher hatte sie noch nie bemerkt, wie glanzvoll sie wirken konnten.
Als Lawrence mit seiner Rede begann, nahm sie ihn in der schimmernden Luft anders wahr. Er war größer, elegant in seinem schwarzsilbern fließenden Umhang, der mit Federn – oder Flügeln – besetzt war. Wahrhaft unmaskiert. Rosie kam es so vor, als hätten alle im Raum sich verändert und sich in das wahre wesenhafte Sein verwandelt, für das die Maske nur ein Symbol war.
»Geliebte Geschwister des alten Blutes.« Sein Sprache klang gestelzt. »Meine Familie und ich heißen euch auf Stonegate Manor willkommen und wir entbieten euch den Segen der neugeborenen Julzeit-Sonne. Ich bedauere es sehr, dass es bisher noch nicht möglich war, die Pforten für die Feiern zu öffnen, an denen wir uns in der Vergangenheit erfreut haben. Wir hoffen jedoch, dass ihr
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