Vaethyr: Die andere Welt
ersten Heimreise vom College. »Es war mir zwar unangenehm, aber besser so, als wenn er es später herausgefunden hätte.«
»Ah, okay.« Also hatte Alastair es für sich behalten, dass er es bereits von ihr wusste. Im Geiste zeichnete sie ihn mit dem goldenen Stern für Diskretion aus.
»Aber die schräge Seite sollten wir lieber für uns behalten, nicht wahr? Die Menschen entwickeln lustige Vorstellungen von uns. Entweder halten sie uns für wahnhaft oder sind überwältigt, weil sie glauben, sich mit uns schmücken zu können.«
»Was weiß Alastair überhaupt von uns?«, fragte Rosie und spielte dabei die Unschuldige.
»Das Gleiche wie die meisten Leute in Cloudcroft: exzentrische Familienbräuche, diese Geschichten. Nicht viel.«
Sie lachte. »Na super. Ist das alles, was du ihm erzählt hast?«
Matthews Augen funkelten vor Zorn. »Kannst du dir überhaupt vorstellen, was ich darum gäbe, nicht gezwungen zu sein, Erklärungen über meine Familie abzugeben? Ich möchte ihn nicht noch extra darauf hinweisen, mehr nicht.«
»Er soll also glauben, dass wir ganz normal sind, normal und in keiner Weise ungewöhnlich?«
»Exakt.«
»Aber wir sind es nun mal!«, rief Rosie aus. »Wenn er die verdammte Addams Family sehen will, braucht er bloß raufgehen nach Stonegate Manor.«
Matthew verzog das Gesicht. »Du sagst es.«
»Hör zu, Matt, er weiß vermutlich mehr, als du ahnst. Ich weiß, dass mir in unbedachten Momenten was rausgerutscht ist. Und er ist immer noch da. So leicht wirst du ihn also nicht vergraulen.«
»Schön, alles, was ich damit sagen will, ist, dass er ein guter Kumpel ist, und so soll es auch bleiben. Seine letzte Freundin hat ihm das Leben zur Hölle gemacht, wanderte durch die Betten und nahm Drogen. Er stand deswegen kurz vor dem Zusammenbruch. Er hat was Besseres verdient.«
»Das hat er sicherlich«, sagte sie und überhörte absichtlich die Anspielung. Sie fühlte sich wohl in Alastairs Gesellschaft, weil er nie irgendwelche plumpen Annäherungsversuche machte. Er war einfach Matts Freund und dazu ein liebenswerter Teddybär. »Hey, du versuchst doch nicht etwa, ihn und Faith zu verkuppeln?«
Matthew rollte die Augen. »Schick mir eine Postkarte, wenn du aufgewacht bist, Rose.«
Rosie fand, dass Lucas und Faith ein hübsches Paar abgeben würden, beide waren schüchtern und von freundlichem Wesen. Doch während ihr erstes und ihr zweites Jahr auf dem College verstrichen, verhielt sich keiner der Betroffenen so, wie er sollte. Faith bewunderte weiterhin Matthew, während Lucas mehr und mehr Zeit auf Stonegate Manor verbrachte.
Seit der Enthüllung war Luc auf Distanz gegangen. Das bekümmerte sie. Wenn sie ihn fragte, lächelte er nur und wich ihr aus. Rosie war womöglich die Einzige, die ihn zurück nach Oakholme hätte locken können, aber aus Eigeninteresse bemühte sie sich nicht allzu sehr. Lucas’ neu entdeckte Freundschaft bot auch ihr Chancen, Jon zu sehen.
»Genau, wie ich befürchtet hatte«, vertraute Jessica eines Tages ihrer Tochter an. »Ich war immer in Sorge, er würde sich uns entfremden, sobald er herausfindet, wer sein Vater ist.«
Ein kalter Lufthauch, angereichert vom Duft feuchten Waldlands, blies Jessica ins Gesicht. Sie und Phyll und noch eine Handvoll andere Elfenwesen hatten sich um einen hohlen Baum ein paar Kilometer weit von Cloudcroft versammelt. Teelichter in grünen Glasgefäßen sorgten für ein schauriges Glimmen im Dunkel. Es war der Tag der Sommersonnenwende, und sie hielten die Tradition, sich zu Festen wie diesem an einem alten Portal zu versammeln, aufrecht, obwohl der Weg in die Anderswelt verriegelt war. Es war ihr stiller Versuch, die Flamme der Hoffnung am Leben zu erhalten.
Jessica wand das Albinit-Armband um ihren Mittelfinger und hielt es hoch. In den Schattenreichen schimmerten die Steine violett, aber es blitzte nichts Rotes oder Grünes auf, was auf einen offenen Zugang hingewiesen hätte. Sie seufzte. Eigentlich bedurfte sie keiner Elfensteine, um zu wissen, dass das Portal noch immer verschlossen war.
Die Lyon-Frauen mit ihren rostroten Haaren und Maeve Tulliver mit ihren traurigen dunklen Augen – sie alle machten einen resignierten Eindruck. Angeführt von Phyll begannen sie leise zu singen:
All die Dämonen von Dumannios,
Malikets Feuer und Melusiels Flut,
All die ernsten Türme von Tyrynaia
Vermögen nicht, mich fernzuhalten von dir,
Mein geliebtes Elysium.
Als legte ich mich mit einem Geliebten nieder,
Werde ich mich
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