Vaethyr: Die andere Welt
Ereignisse waren nicht mehr als wehmütige Tribute an das, was hätte sein sollen. Und man kam sich dabei vor, als würde man mit Geschenken zu einer Party kommen, aber dann vor verschlossenen Türen stehen, fand Rosie.
Angst durchwehte sie. Wir brauchen Elysium, hatte ihre Mutter gesagt. Der Stier Brewster war aufgrund des Mangels zugrunde gegangen, und die Vorstellung, es niemals zu Gesicht zu bekommen, machte ihr das Herz schwer … Dann fiel ihr ein, was für ein düsteres Gesicht ihr Vater gemacht hatte, als er sagte, er glaube Lawrence. Die Großen Tore waren zu Barrikaden geworden, hinter denen eine grauenhafte, unaussprechliche Bedrohung lag. Wie wäre es wohl, dennoch einen Schritt in die Anderswelt zu setzen und der Gefahr ins Auge zu blicken …
Der Wind blies heftiger und brachte den Geruch von Regen mit. Sie schlang sich den Schal doppelt um den Kopf und zog ihre Handschuhe an, ehe sie mit dem Abstieg begann. Zweige schlugen ihr entgegen. Als sie die ersten Häuser und den Schutz der Straßenlampen erreichte, fiel der Strom aus. Die Welt verwandelte sich in wirbelnden Regen und Dunkelheit.
Fluchend eilte Rosie weiter, kaum dass sie den Weg unter ihren Füßen erkennen konnte. Es gruselte sie und sie verlor die Orientierung. Sie hätte nicht sagen können, ob sie sich auf der Oberflächenwelt oder in den Schattenreichen bewegte, und irgendwo im Sturm knurrte ein Tier …
Direkt neben ihrem Ohr.
Sie blieb wie angewurzelt stehen. Sie war umgeben von brodelnden Wolken, in denen grelle Blitze zuckten. Dann platzte die Wolke auf wie eine Frucht und es fielen zwei dämonische Ungeheuer mit Stachelschwänzen heraus, die kreischend und knurrend mit ihren Fangzähnen und Klauen übereinander herfielen. Gelbe Feuer umloderten sie.
Rosie kämpfte sich eine mit Gras bewachsene Böschung hinauf, die zwischen dem Fußweg und den Häusern lag. Dort stand eine Esche, hinter deren Stamm sie sich versteckte, um von dort aus den Kampf der Kreaturen zu beobachten. Regen und Blut glänzten auf ihren Schuppen. Der gelbe Hass ihrer Augen verriet, dass es ein Kampf auf Leben und Tod war.
Also gut, sagte sie sich. Ich befinde mich definitiv in den Schattenreichen und brauche nur einen Schritt zur Seite zu treten, um wieder in die Oberflächenwelt zurückzugelangen … Aber sie schaffte es nicht.
Der Kampf dieser Ungeheuer musste doch das ganze Dorf wecken. Ihr Kreischen war ohrenbetäubend. Einer der Dämonen stürzte und der andere warf sich auf ihn und durchstach mit seinen gekrümmten Klauen die gepanzerte Kehle seines Feindes. Das Geschrei hörte auf. Der Schweif des Siegers schlug aus, schabte über den Kies des Fußwegs und bohrte sich in die Erde.
Die gruseligen Feuer erloschen. Jetzt konnte Rosie überhaupt nichts mehr sehen und wagte sich auch keinen Schritt weiter. Wartete der Dämon wütend und hungrig vielleicht noch dort im Dunkel? Sie sah einen schwachen Lichtschein über regennassen, schuppigen Hinterbacken, als der Sieger vom Körper seines Rivalen abließ.
Als die Straßenlampen und Hausbeleuchtungen wieder angingen, zuckte Rosie zusammen. Sie betrachtete den Kampfplatz. Da war nichts zu sehen.
»Schön«, murmelte Rosie und rannte, den Kopf vor dem Regen eingezogen, den Rest ihres Wegs nach Hause. »Also gut. Genau das meint Matthew wohl. Man geht in die Schattenreiche und schon sieht man Dinge, die man nicht sehen sollte. Wir werden langsam verrückt. Deshalb hat er sich von der Anderswelt abgewandt und lebt auf der Oberfläche, um sich vor dem Wahnsinn zu retten. Gut. Ich hab’s verstanden.«
Selbst ihr eigener Garten wirkte heute Nacht bedrohlich, und sie hastete über den Eingangsweg, als lauerten ihr Gespenster im Gebüsch auf. Das warme Licht von Oakholme fiel nach draußen. Aber als sie den Schlüssel ins Schloss steckte, kam eine bleiche Hand aus dem Dunkel und packte sie am Arm.
Rosie stieß einen kurzen unverhohlenen Schrei aus.
»Rosie, tut mir leid«, flüsterte ein dünnes Stimmchen. »Ich bin es nur.«
Ein bleiches Gesicht bewegte sich in den Lichtkegel der Verandalampe. Es war Faith. Sie war nass bis auf die Haut, das Haar klebte ihr am Kopf und Regen tropfte über ihr schmales Gesicht.
»O Mann«, keuchte Rosie. »Warte erst mal, bis mein Herz wieder zu schlagen anfängt. Meine Güte.« Sie holte tief Luft. »Was ist denn los? Alles okay mit dir?«
Faith war ganz offensichtlich nicht okay. Ihre Augen waren vor Schreck geweitet. »Meine Eltern«, flüsterte sie. »Sie haben sich
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