Vaethyr: Die andere Welt
dicht neben sie. »Ich weiß, es ist elfische Tradition und so, aber es steht ihr wirklich nicht zu, Außenseiter dahin mitzunehmen.«
Mutlos sagte sie: »Aber keiner hatte was dagegen.«
»Sie haben es vielleicht nicht gesagt, aber …« Seine blauen Augen sahen sie nun sanft an. »Hey, ich habe es nicht böse gemeint, als ich ›Außenseiter‹ gesagt habe. Ich bin ja selbst einer. Doch dieser ganze Unsinn kann dir den Kopf vernebeln und ernsthaften Schaden anrichten. Ich will ja nur sagen, dass du nie wirklich Anteil daran haben kannst, denn du bist ein Mensch, und ich will auch nichts damit zu tun haben. Also lass uns alledem gemeinsam fernbleiben, he?«
Er schlang seinen Arm um ihre Taille. Es war nicht das erste Mal, dass er sie berührte, aber seine Berührungen hatten sich zuvor immer brüderlich angefühlt. Sie hielt die Luft an und nickte heftig. »Ja, in Ordnung. Ich wollte niemandem schaden.«
»Ich weiß«, sagte Matthew in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete. »Aber wenn Mum das nächste Mal fragt, dann sagst du Nein, in Ordnung?«
Er löste seinen Arm nicht von ihr, sondern verstärkte den Druck, und Faith fragte sich zitternd, ob ihm inzwischen klar geworden war, dass sie ihm nichts abschlagen konnte.
Lawrence stand an den Toren, oder besser gesagt auf Freias Krone, dem großen Einmerker aus Stein, der im geschlossenen Buch Platz hielt. Es war ein Augusttag, wolkenverhangen und feucht. Er stand kurz vor einer Reise zu seinem Juweliergeschäft in New York und wie ein Zwangsneurotiker musste er vor seinem Aufbruch noch einmal akribisch überprüfen, ob die Tore auch wahrhaft verriegelt waren. Der Albinitstein in seiner Hand war blass geblieben, aber er traute ihm nicht.
Er schloss die Augen und streckte seine Hand aus, um die Felsen zu berühren.
Einen blendenden Augenblick lang konnte er durch sämtliche Reiche bis ins Herz schauen, dem gewaltigen Abyssus, der alles verschlang. Direkt vor seinen Füßen tat er sich in seiner Unermesslichkeit auf und schwankend starrte Lawrence hinein. Und er sah den Riesen, der daraus hervorkam, ein gewaltiger gehörnter Schatten vor grellem, eisigem Licht. Er war seinetwegen gekommen. Lautlos kam er näher und zerschmetterte die Tore auf seinem Weg wie Eierschalen.
Lawrence sank davor zu Boden. Ein Schrei löste sich aus seiner Kehle, ein tiefer, spitzer Schrei der Verzweiflung, der Kapitulation. Das Wesen auf der Suche nach seinen Söhnen hielt das Maul offen, um deren Seelen zu trinken. Er hatte sich so bemüht, sie zu beschützen, und versagt …
»Lawrence?« Er lag auf Händen und Knien. Eine Frau stand über ihm und rüttelte ihn an der Schulter. »Was ist passiert, mein Lieber?«
Hoch ragte ihre Silhouette vor dem Himmel auf. Sie trug Gartenkleidung: Jeans, ein altes Hemd, das Haar quoll unter ihrem Wachsut hervor. Er konnte sie gegen den Glast nicht deutlich erkennen und hielt sie einen Moment lang für Ginny. »Du hättest mich nie dazu bringen dürfen, hierher zurückzukommen«, keuchte er.
»Was?« Sie hockte sich neben ihn und da sah er, dass es Sapphire war. In einem Augenblick der Schwäche streckte er seine Arme nach ihr aus und klammerte sich an sie. »Lawrence, was ist los?«
Er ließ sich von ihr aufhelfen. Wäre er seinem Impuls gefolgt, hätte er all seine Ängste vor ihr ausgeschüttet – aber die Vorstellung, als stammelnder Hysteriker vor ihr zu stehen, ließ ihn zurückschrecken. Er meisterte schonungslos seine Schwäche, indem er wieder zu eisigem Stein wurde. »Nichts, ich bin gestolpert.«
»Behandle mich nicht wie eine Idiotin. Du scheinst zu vergessen, dass du mir vor langer Zeit alles erzählt hast.«
»Ich hätte es dir nie erzählen dürfen. Du spürst die Schatten nicht. Du verstehst es nicht.«
»Es ist nicht mein Fehler, dass ich ein Mensch bin.« In ihrer Stimme schwang freundlicher Tadel mit. »Aber ich bin nicht irgendein Mensch, ich bin deine Frau. Also, erzähl mir die Wahrheit.«
Ihre Augen waren hell und eindringlich und übten einen körperlich spürbaren Druck auf ihn aus. Lawrence glaubte zu ersticken. Sapphire gehörte nicht hierher. Es war sein Fehler gewesen, wieder zu heiraten, aber das gab ihr nicht das Recht, Antworten einzufordern. »Nein«, sagte er brüsk. »Es war eine Vision. Und bei einer Vision geht es nicht darum, was ich tun kann, sondern um die Bedeutung …« Die Worte kamen nur schwer aus ihm heraus. Er musste innehalten.
»Hast du versucht die Tore zu öffnen?«
»Dafür besteht
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