Valentina 3 - Geheimnisvolle Verführung: Roman (German Edition)
interessierst du dich dann?«, fragt Tina. Das Mädchen fasziniert sie. Sie ist anders als die meisten anderen Models, die sie kennt.
»Musik«, erwidert Lottie. »Ich studiere Geige. Das hier«, sie deutet mit einer ziemlich abwertenden Geste auf Octavia, die hinter ihr zusammenpackt, »mache ich nur, um die Miete zu bezahlen.«
Tina nimmt einen weiteren Zug von ihrer Zigarette. Ihr ist ein bisschen schwindelig. Sie hat wieder vergessen, etwas zu essen, aber sie ist nicht hungrig.
»Magst du klassische Musik?«, fragt Lottie.
»Ja, die meiste«, sagt Tina. »Ich mag Debussy und Chopin, aber Dvo ř ák und Schostakowitsch gefallen mir auch.«
Lotties Augen hellen sich auf, und auf einmal wirkt sie so lebendig wie den ganzen Tag nicht. Tina ist versucht, noch einmal zur Kamera zu greifen und ein paar weitere Aufnahmen zu machen.
»Wirklich? Dann musst du mich morgen zu einem Konzert begleiten. Das heißt, natürlich nur, wenn du noch nicht nach Italien zurück musst.«
»Nein, ich bin noch in Berlin«, sagt Tina. »Ich reise erst übermorgen ab.«
»Gut.« Lottie drückt ihre Zigarette aus. »Ich nehme dich mit auf ein Konzert von Karel Slavik, dem ungewöhnlichsten Cellisten in ganz Deutschland.«
»Ich glaube nicht, dass ich von ihm gehört habe. Was spielt er?«
»Schostakowitschs Sonate in d-Moll für Cello. Da musst du mitkommen.«
Lottie geht in Richtung Garderobenzelt, das sie neben der Spree aufgebaut haben. In der Berliner Abenddämmerung sieht sie aus wie ein Geist aus einer vergessenen Zeit. Sie passt nicht in das graue Berlin des Kalten Kriegs von heute.
Tina folgt ihr hinüber zum Zelt.
»Wo und wann findet das Konzert statt?«, will Tina wissen.
»Komm morgen früh um elf Uhr zum Grenzübergang Friedrichstraße.«
Sie grinst über Tinas verwirrte Miene.
»Das Konzert findet in Ostberlin statt«, erklärt sie.
»Du bist schon dort gewesen?«
»Na klar, andauernd«, antwortet Lottie. »Meine Cousine Sabine lebt in Ostberlin. Und ich habe ein paar Freunde in Prenzlauer Berg.«
Tina verspürt ein aufgeregtes Kribbeln. Sie wird die andere Seite der Mauer kennenlernen und ist gespannt, wie es im Ostteil der Stadt aussieht. Vielleicht ist es dort gar nicht so anders. Vielleicht ist es dasselbe, nur grau und trist. Oder vielleicht ist es auch ganz anders, als wäre man auf einem anderen Kontinent. Aber das wird sie ja sehen. Tina hat jedenfalls das deutliche Gefühl, dass der Trip nach Ostberlin sich zu mehr entwickeln wird als nur zu einem Tagesausflug mit Konzertbesuch.
Tina kennt vom Osten bislang nur verlassene S- und U-Bahn-Stationen. Gestern Abend ist sie ein bisschen mit der U-Bahn herumgefahren, um die Stadt zu erkunden. An einer Stelle fuhr die U-Bahn aus einem dunklen Tunnel in eine leere Station. Der Zug drosselte die Geschwindigkeit und rollte quälend langsam hindurch, hielt aber nicht an. Einen Augenblick war Tina verwirrt gewesen. Warum hielt er nicht? Es war eine normale Station, und sie war beleuchtet. Erst als sie die Station wieder verließen, entdeckte sie einen einsamen Wachposten mit einem Gewehr. Natürlich, sie fuhren durch den Osten. Diese Stationen waren einst voller Leben gewesen, doch jetzt versteckte man sie vor den Menschen. Wussten die Ostberliner überhaupt, dass sie unter ihren Füßen hinwegfuhren? Wie konnte man eine Stadt einfach in zwei Hälften teilen? Wäre das in Mailand möglich? Das kann Tina sich nicht vorstellen.
Morgen lernt sie also Ostberlin kennen. Octavia meint, dass es nicht viel zu sehen gebe und sich ein Besuch nicht lohne.
»Das Essen ist schrecklich, und es gibt keine anständigen Geschäfte«, beschwert sie sich.
Aber Tina hat sich noch nie viel aus Essen oder Shoppen gemacht. Sie interessiert, wie die Menschen sind. Wie sie es aushalten, im Osten eingesperrt zu sein? Das wäre für sie die Hölle, nicht gehen zu können, wohin sie will und wann sie will. Sie dreht sich zur Berliner Mauer um.
Hätte sie versucht, über die Mauer zu fliehen, wenn sie bei ihrem Bau das Pech gehabt hätte, sich auf der falschen Seite zu befinden? Sie möchte glauben, dass sie es versucht hätte, aber woher will sie das wissen? Tina geht auf die Mauer zu und bleibt mit einigem Abstand vor ihr stehen. Sie hat Angst, dass ihr etwas passiert, wenn sie zu dicht herangeht. Sie hört das Rauschen der Spree, und sie denkt an all die verzweifelten Menschen, die versucht haben, in den Westen zu schwimmen. So viele von ihnen sind ertrunken oder im Wasser erschossen
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