Valentina 3 - Geheimnisvolle Verführung: Roman (German Edition)
ein zweischneidiges Schwert. In den ersten Jahren hatte Tina Phil ein bisschen darum beneidet, dass er so viel mehr Zeit mit Mattia verbrachte. Sie weiß noch genau, wie verletzt sie war, als Mattia im Alter von ungefähr zweieinhalb Jahren mit seinem Roller stürzte und sich das Knie aufschlug. Damals war er nicht zu ihr, sondern zu Phil gelaufen. Als sie sich deshalb beschwerte, sagte Phil:
»Du kannst nicht alles haben, Tina.«
Etwas in ihr begehrte gegen diese Bemerkung auf. Warum konnte sie in ihrem Leben nicht beides sein? Karrierefrau und Mutter? War es denn so unmöglich, auf beiden Gebieten erfolgreich zu sein?
Sie befinden sich am Kopf der Schlange, und kurz bevor sie hindurchgehen, dreht Lottie sich zu Tina um: »Hast du 25 Deutsche Mark dabei? Ich habe dir vergessen zu sagen, dass es einen Zwangsumtausch gibt.«
»Ja, ich habe Geld bei mir.«
»Sobald wir durch sind, bekommen wir unser Tagesvisum. Es gilt bis zwei Uhr morgens.«
Der Grenzbeamte mustert Lottie in ihrer Punkaufmachung und schüttet den gesamten Inhalt ihrer Tasche aus, findet jedoch nichts, und muss sie widerstrebend passieren lassen.
Kaum liegt der Bahnhof Friedrichstraße mit seinen Gleisen hinter ihnen, erscheint Tina die Umgebung anders. Als sei sie in der Zeit zurückgereist, in ein älteres Berlin der Sechziger- und Siebzigerjahre. Die Autos sehen praktisch alle gleich aus, die meisten von ihnen sind kleine Trabis in Weiß oder Blau. Als sie die Straße hinuntergehen, bemerkt Tina, dass man sie anstarrt, vor allem Lottie. Es ist offensichtlich, dass sie aus dem Westen kommen.
»Wie ist deine Cousine auf der anderen Seite der Mauer gelandet?«, fragt Tina.
»Meine Familie stammt ursprünglich aus Ostberlin, aus einer Gegend, die Prenzlauer Berg heißt. Ich zeige dir später das Haus, in dem mein Vater und sein Bruder aufgewachsen sind. Man hat alle Häuser in Mietwohnungen aufgeteilt, sie fallen inzwischen auseinander. Als die Mauer gebaut wurde, wollten meine Mutter und mein Vater nicht in Ostdeutschland bleiben und sind geflohen.«
Obwohl Tina nicht weiß, wer sie belauschen sollte, hat Lottie ihre Stimme zu einem Flüstern gesenkt.
»Sie sind über die Mauer gekommen?«, fragt Tina.
»Unter der Mauer«, berichtigt Lottie. »Sie sind durch einen Tunnel geflohen. Meine Mutter war damals mit mir schwanger. Sie hatte große Angst, in dem Tunnel steckenzubleiben. Mein Vater musste sie hindurchschieben.«
»Mein Gott, das hört sich schrecklich gefährlich an.«
»Das war es. Sie gehören zu den Letzten, die hinausgekommen sind. Einige, die hinter ihnen waren, hat man gefasst.«
Lottie bleibt auf der Straße stehen, die massive Betonmauer liegt jetzt hinter ihnen. Tina hört die Züge, die auf ihrem Weg in den Westen durch den Bahnhof Friedrichstraße rattern. Die Ostberliner können die Züge nur hören, aber nicht sehen.
»Meine Eltern haben geschworen, dass sie nur zurückkehren, wenn Ostberlin frei ist. Sie hätten nie gedacht, dass die Mauer nach all den Jahren noch stehen würde. Sie haben ihre Familien seit Jahren nicht gesehen. Nur meine Großeltern dürfen in den Westen reisen, weil sie Rentner sind. Meine Cousine haben meine Eltern noch nie getroffen.«
»Und wann hast du sie zum ersten Mal gesehen?«
»Sobald ich achtzehn war, wollte ich den Osten kennenlernen und mit eigenen Augen sehen, wie es dort ist. Als ich Sabine getroffen habe, war es, als wäre sie die Schwester, die ich nie hatte. Wir sind im selben Alter und haben fast denselben Geschmack. Aber natürlich zieht sie sich nicht so an. Das wäre zu auffällig.«
Lottie blickt auf ihre Armbanduhr. »Komm, wir wollen sie nicht verpassen.«
Sie zieht Tina mit sich die Straße hinunter. Wie erwartet, ist es im Osten weniger bunt. Statt an Werbebannern kommen sie an schlichten weißen Plakaten mit schwarzer Schrift vorbei. Kommunistische Parolen, erklärt Lottie ihr und übersetzt für Tina. »Erhalte die sozialistische Ordnung, Disziplin und Sauberkeit.«
Bei der Vorstellung, in einem so streng reglementierten Staat zu leben, überkommt Tina eine beklemmende Übelkeit. Mit Regeln hatte sie schon immer Schwierigkeiten. In der Schule hat sie die Nonnen verrückt gemacht, ständig kam sie zu spät und hatte nie ihre Hausaufgaben gemacht, und dennoch schrieb sie in den Klassenarbeiten stets gute Noten.
»Natürlich würde ich nie hier leben wollen«, meint Lottie. »Aber die haben hier eine Menge Spaß, weißt du? Sabine ist als Jugendliche viel häufiger
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