Valentine
eine Hand vor den Mund und stöhnte auf. Die einzelnen Tränen verdichteten sich zu einem Tränenfluss. Aldin drückte ihre Schulter fester , und Chantal rang um Fassung. »Woher weißt du das?«, flüsterte sie kaum hörbar.
Darüber hatte er sich noch gar keine Gedanken gemacht. Kalter Schweiß brach in seinem Rücken aus. »Ich … äh, einer von Papas Mitarbeitern, Ryad d’Or , hat es mir gesagt.«
Seine Mutter schniefte , und Aldin reichte ihr ein Stofftaschentuch, das sie mit dankbarem Blick annahm.
»Und jetzt? Wo ist Geoffreys Leichnam?«
Aliénor und Maurice tauschten einen kurzen Blick aus.
»Im Auto, also im Kofferraum«, antwortete sie und fügte angesichts Chantals erschrockenem Blick schnell hinzu: »In einer Urne.«
»Er ist verbrannt?«
»Na ja, jein, nicht bei dem Überfall. Ich musste eine Entscheidung treffen, Maman, ob Erd- oder Feuerbestattung. Ich wusste nicht, wann und wo ich dich finden würde. Du hast dich leider nicht mehr bei mir gemeldet.«
Chantal nickte und senkte weinend den Kopf.
»Lasst uns einen Augenblick allein«, bat Aldin.
Es war Maurice nur recht, den Raum zu verlassen , und auch Aliénor wirkte erlöst, dass Aldin es übernehmen würde, Chantal zu trösten. Maurice hatte ein wenig mehr sichtbare Erleichterung erwartet. Immerhin hatte seine Mutter hilflos mit ansehen müssen, wie sein Vater Aliénor gequält hatte.
Eine Weile gingen sie im Flur auf und ab, ohne ein Wort zu sprechen.
»Glaubst du …«, gaben sie fast zeitgleich von sich.
»Du zuerst«, bestimmte Maurice.
»Glaubst du, sie hat ihn noch geliebt, trotz allem?«
Er zuckte mit den Schultern.
Die Tür ging auf , und Aldin winkte sie wieder herein. Chantal wirkte jetzt gefasst. Nur ihre geröteten Augen und ihre an geschwollenen Nasenflügel zeugten davon, dass sie gerade heftig geweint hatte.
»Warum hast du die Urne mitgebracht, Maurice?«
»Ich – wusste nicht, ob du Papa in Köln beerdigen willst, oder hier im Wald, oder seine Asche im Wind verstreuen …«
Erstaunt zog sie eine Augenbraue hoch. »Geht das denn?«
»Nun ja, es erfährt ja keiner«, murmelte Aldin. »Überleg es dir.«
Kapitel 28
Seit Maurice und Aliénor abgereist waren, fand Valentine keine Ruhe. Niemals hätte sie gedacht, solche Sehnsucht zu empfinden. Es machte sie schier verrückt, nicht zu wissen, ob die beiden gut angekommen waren und wann sie zurückkehren würden. Seit seiner kurzen SMS hatte Maurice sich nicht mehr gemeldet.
Drei Tage und Nächte waren mittlerweile vergangen , und auch Frédéric schaffte es kaum, sich auf seine Arbeit zu konzentrieren. Mit jedem weiteren Abend sah er unausgeschlafener und unzufriedener aus, gab mürrische knappe Antworten und starrte während des Essens schweigend vor sich hin. Sofern er überhaupt etwas zu sich nahm. Nicht einmal Magdalena, die unbeschwert mit Tiziana und Olivier über ihr früheres Leben plapperte, schaffte es, ihn einzubeziehen und abzulenken.
»Sollen wir ein wenig trainieren?«, fragte Frédéric am Ende des Mahls, nachdem die anderen sich verabschiedet hatten. »Ich komme mir gerade ziemlich überflüssig vor.«
Seine Offenheit und das Wissen, dass es ihm nicht besserging als ihr, waren auf gewisse Weise wohltuend. Ein Schwert- oder Degengefecht würde sie beide für eine Weile ablenken und ihre unterdrückten Frustrationen bekämpfen. Sie nickte. Es machte keinen Sinn, sich über die Unterlagen zu setzen und zu arbeiten, wenn sie Konzentrationsschwierigkeiten hatten.
Wenig später betraten sie gemeinsam den Dojo des Schlosses. Frédéric nur mit einer weiten Kampfhose bekleidet, Valentine mit einem schwarzen Top und einer eng anliegenden Lederhose, beide barfuß . Je nachdem, mit welcher Waffe sie gegeneinander antreten würden, würde sich die passende Schutzkleidung ergeben.
Sie durchquerte den Raum und gab auf einem in die gegenüberliegende Wand eingelassenen Tastenfeld eine Zahlenkombination ein. Mit einem kaum wahrnehmbaren Klick öffnete sich eine der großen Holzplatten der Wandtäfelung und fuhr hinter die daneben liegende zurück , um die Sicht auf die beachtliche Waffensammlung freizugeben .
Valentine machte eine ausschweifende Handbewegung und sah ihren Bruder auffordernd an. Durch ihn hatte sie mit dem Breitschwert, japanischen Schwertern, Degen, britischen Langbogen, aber auch Schusswaffen kämpfen gelernt, was für eine Dame ihres Standes in der Vampirgesellschaft vollkommen unüblich war. Frédéric hatte beizeiten erkannt, dass
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