Valley - Tal der Wächter
könnte. Deine Beine sind zwar ziemlich kurz, aber wenigstens sind sie noch dran. Finde dich mit deiner Lage ab, dann ist das Ganze bald vergessen.« Damit pustete Katla die Kerze aus und schlurfte aus dem dunklen Zimmer.
4
Sven war mit Egil befreundet, aber schon als Jugendliche stellten die anderen Helden seine Geduld oft auf eine harte Probe. Kein Jahrmarkt und kein Reitertreffen verging, an dem sie ihn nicht zu diesem oder jenem Wettkampf herausforderten. Dabei missfiel ihm nicht nur ihre Dreistigkeit, sondern ebenso ihre merkwürdige Aussprache, ihre sonderbare Art, sich zu kleiden, und ganz besonders der Fischgeruch, den seine Gegner von weiter unten im Tal verströmten. Als Arne und Erlend einmal einen Wettkampf im Findlingsweitwurf vorschlugen, schleuderte Sven seinen Findling über das ganze Feld bis mitten in den Fluss hinein, wo der Fels eine kleine Insel bildete. Anschließend packte er die anderen Helden, da ihn ihr Gestank beleidigte, an den Beinen und warf sie hinterher.
Am übernächsten Tag trafen die Besucher ein. Schon am frühen Morgen sah man auf der Straße die ersten Reiter näher kommen, graue Schatten, die sich einer nach dem anderen aus dem Birkenwald lösten. Ihnen folgten von der langen Fahrt schlammbespritzte Karren und Wagen. Am Nordtor wurde ins Horn gestoßen, das Feuer unter den Bratrosten wurde entfacht, die ersten Fässer wurden angezapft. Gegen die morgendliche Kühle in warme Mäntel gehüllt, schritten Arnkel und Astrid den Gästen entgegen, um sie willkommen zu heißen.
Die Sonne ging über dem Eckzahn auf und streifte das Dach der Großen Halle. Männer und Frauen kamen aus der Küche gelaufen und trugen Brot und Kuchen unter sauberen weißen Leintüchern zu den auf der Wiese aufgestellten Tischen. Die ersten Gäste fingen an, ihre Zelte aufzubauen, und schmückten den Stand, den sie sich ausgesucht hatten, mit den Wimpeln ihres Hauses. Kinder rannten johlend durchs taufeuchte Gras. Mittlerweile herrschte auf der Straße reger Verkehr, unablässiges Hufgetrappel und das Quietschen von Rädern waren zu hören. Es wurde wärmer, man legte die Mäntel ab, auf der Festwiese mischten sich Jacken und Kleider in den Farben der verschiedensten Familien. Hände wurden geschüttelt, man umarmte sich und ab und zu übertönte Hörnerklang das Stimmengewirr und kündigte neue Gäste an. Der Herbstwind trug den Lärm weit übers Land.
Von der Troldmauer aus schaute Hal so lange zu, wie er es ertragen konnte, dann zog er sich in sein Zimmer zurück, wo man von dem munteren Treiben nur noch einen dumpfen Widerhall vernahm.
In Hal flammte die bittere Enttäuschung wieder auf und versengte ihm die Brust. Gleich hinter demTor hatte sich das ganze Tal zu einem fröhlichen Fest eingefunden, und ihm selbst war es untersagt, an dem Vergnügen teilzunehmen! Das würde er seinen Eltern nie verzeihen!
Er stand vom Bett auf, ging auf Zehenspitzen den Korridor entlang und schlüpfte durch den Vorhang in die verlassene Halle. Draußen im Hof erklang lautes Gelächter, drinnen bei Hal tanzten träge Staubkörnchen in den schrägen Sonnenstrahlen, die durch die Westfenster hereinfielen. Die Sonne beschien auch die Heldenschätze an der Wand hinter den Richterstühlen: Svens verbeulten, zerschrammten Helm, seinen vom Rauch der Jahrhunderte geschwärzten Jagdspeer, seinen Langbogen mit der zerrissenen Sehne. Auch Svens Schild hing dort, eine runde Scheibe aus zernarbtem schwarzen Holz, der Rand und das Mittelstück aus Metall. Daneben war sein maroder Köcher aufgehängt. Und darunter stand auf einem gemauerten Wandbord die kleine Kiste mit Svens zusammengelegtem glückbringendem Silbergürtel. Hal schaute zu den Schätzen empor, die von Svens abenteuerlichem Leben zeugten.
Das Einzige, was fehlte, war das Schwert. Das hielt Sven oben auf dem Berg in der Hand.
Mit einem Mal wurde Hal so von Zorn gepackt, dass er mit den Zähnen knirschte. Sogar tot war Sven noch mehr nütze, als er selbst, Hal, es je sein würde! Sven verteidigte immer noch das Tal gegen die Trolde, wogegen Hal gehorsam den Kopf einzog, wenn seine Eltern etwas von ihm verlangten, und zu einem Leben in quälender Langeweile verdammt war, bis er eines Tages tot umfallen und zu seinen Vorfahren in ein Hügelgrab verfrachtet werden würde.
Er hielt es nicht mehr aus. Die Halle erdrückte ihn. Raschen Schrittes verließ er das Haus durch die Hintertür, huschte zwischen den Stallungen hindurch bis zur Troldmauer, kletterte hinauf und
Weitere Kostenlose Bücher