Valley - Tal der Wächter
seine Schritte waren zu kurz. Er hörte Leif brüllen, hörte ihn aufs Pflaster hinunterspringen. Da tauchte vor ihm eine Frau mit einem Wäschekorb auf und versperrte ihm den Weg. Hal schlug einen Haken, stürmte in die Gerberei, flitzte zwischen den Schabebäumen durch, rutschte auf einer Lache Schaffett aus, fiel auf den Hintern und prallte gegen einen Bottich.
Unn drehte sich mit rosigem Gesicht und fleckigen Händen nach ihm um. »Nanu, Hal! Was...«
Da kam Leif zur Tür hereingeschossen, erblickte seinen Bruder und stürzte sich auf ihn. Hal rollte sich zur Seite, zwischen die Beine eines Schabebaums, Leif holte aus, verfehlte Hal und hieb mit Schwung gegen den Bottich, der umkippte. Die stinkende gelbe Beize ergoss sich auf den Fußboden. Unn schrie erschrocken auf, ihr Sohn Brusi machte einen Luftsprung und hielt sich mit beiden Händen an einem Dachbalken fest. Leif achtete nicht auf die beiden, sondern stürmte zur Vordertür, durch die Hal eben entwischte. Leif griff sich eine Bürste, warf sie nach seinem Bruder und verfehlte dessen Kopf nur knapp. Die Bürste prallte am Türpfosten ab und knallte Leif aufs Auge.
Im Innenhof waren die Vorbereitungen für die Versammlung so gut wie abgeschlossen. Halbwüchsige Jungen fegten das Pflaster, die Tische waren schön gedeckt, die Banner flatterten fröhlich. Arnkel und Astrid standen auf der Veranda und schenkten allen zur Erfrischung Bier aus.
Da kam Leif in den Hof gestürmt. Wo war Hal? Dort drüben! Er duckte sich gerade unter einem Stand durch! Leif hechtete über einen Tisch und riss Töpfe und Teller mit. Die Umstehenden sprangen beiseite, stolperten und stießen miteinander zusammen, Obst und Gemüse flogen in hohem Bogen auf die Erde.
Hal entwischte Leifs ausgestreckter Hand und sprang auf den nächsten, mit gewebten Tüchern beladenen Stand. Leif setzte ihm nach und trampelte mit seinen kotverschmierten Stiefeln über die Stoffe. Hal sprang wieder herunter und rannte ins Bierzelt. Leif blieb ihm dicht auf den Fersen. Als er Hal über die aufgestapelten Fässer klettern sah, versetzte er einer im Weg stehenden Frau einen groben Stoß, machte einen Satz wie ein Wolf und landete auf dem Stapel, wobei etliche Fässer herunterfielen. Sie rollten polternd aus dem Zelt und quer über den Hof, ließen links und rechts arglose Bedienstete wie Kegel umpurzeln, ehe sie an der Hauswand zerbarsten.
Leif hatte seinen Bruder auf dem Fässerstapel in die Enge getrieben und kam immer näher. Hal sah sich um und erblickte ein vom Zeltdach herunterhängendes Seil. Er hechtete danach, hielt sich daran fest, holte Schwung und plumpste wie ein Stein zu Boden, als mit einem Mal das halbe Zelt nachgab. Hal landete sanft auf einem Stapel Tücher und Wimpel, kämpfte sich unter dem eingestürzten Zelt hervor – und blieb unvermittelt stehen.
Leif rückte drohend näher. »Nun denn, Bruderherz...«
Auch er blieb stehen. Sah sich um.Vor den beiden standen Arnkel und Astrid, mit finsterem Blick und unbewegten Mienen. Zu beiden Seiten der Familienoberhäupter scharten sich die übrigen Bewohner des Hauses, Männer, Frauen, Kinder, alle in tiefstem Schweigen.
Astrids Haar war eng am Kopf anliegend aufgesteckt, ihr bloßer schlanker Nacken leuchtete weiß. Sie schaute drein wie sonst, wenn sie in der Großen Halle Schiedsgericht abhielt, fand Hal, wenn sie wieder einmal einen heulenden, zähneklappernden Schwerverbrecher zum Tod durch den Strang verurteilte. Ihr Blick wanderte zwischen Leif und Hal hin und her.
»Ihr seht aus wie meine Söhne«, sagte sie, »aber so, wie ihr euch aufführt, könntet ihr ebenso gut Fremde sein.« Keiner der beiden Jungen erwiderte etwas. Die Menge sah und hörte gespannt zu. Irgendwo weinte ein Säugling. »Was«, fuhr Astrid in weiterhin ruhigem Ton fort, »habt ihr dazu zu sagen?«
Leif trat widerstrebend vor und gab eine weitschweifige, vor Selbstmitleid triefende Schilderung der Ereignisse zum Besten.
Arnkel hob die Hand. »Das genügt, mein Sohn.Tritt ein Stück zurück. Du stinkst ja, dass einem die Tränen kommen. Was hast du vorzubringen, Hal?«
Hal zuckte die Achseln. »Ja, stimmt, ich hab ihn in den Misthaufen geschubst. Na und? Er hat mich geschlagen und mich und meine Freunde verspottet, wie jeder von ihnen bezeugen kann.« Er sah sich um, aber Sturla, Kugi und die anderen waren in der Menge untergetaucht. Hal stieß einen Seufzer aus. »Jedenfalls fand ich, das ist eine Ehrverletzung, die man nicht einfach auf sich beruhen
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