Valley - Tal der Wächter
lassen kann.«
Sein Onkel Brodir stand zwischen den anderen. »Ich finde, das klingt doch ganz einleuchtend«, warf er ein.
»Dich hat niemand nach deiner Meinung gefragt, Brodir«, fuhr ihn Astrid scharf an. »Und du, Hal, wag es nicht, dich auf deine Ehre zu berufen! Du bist ein Tunichtgut – so jemand hat keine Ehre!«
»Wenn du der Ansicht warst, dass Leif dir Unrecht getan hat«, setzte Arnkel hinzu, »dann hättest du ihn auf faire Weise herausfordern sollen und ihn nicht hinterrücks treten.«
»Aber Leif ist viel stärker als ich,Vater. Hätten wir fair gekämpft, hätte er mich zu Brei gehauen, stimmt’s, Leif?«
»Stimmt. Ich kann es gern vorführen.«
»Siehst du,Vater? Mal ganz ehrlich – was hätte mir das genützt?«
»Nun...«
»Und hat nicht auch der große Sven den anderen Helden in den Tagen vor dem Waffenstillstand und der Schlacht am Troldfelsen hinterrücks aufgelauert?«, rief Hal. »Er hat Hakon auch keine förmliche Herausforderung überbringen lassen, als er ihn allein am Wasserfall hat entlangreiten sehen. Er hat einfach einen Felsbrocken vom Eckzahn runtergeworfen. Jetzt stellt euch vor, mein Stiefel ist der Felsbrocken und Leifs Hintern ist Hakon – ist doch im Grunde das Gleiche! Bloß dass ich besser gezielt habe.«
Arnkel trat von einem Fuß auf den anderen. »Da hast du nicht ganz unrecht, aber...«
»Angemessen wäre es gewesen, Hal«, unterbrach ihn seine Frau mit einer Stimme wie zerstoßenes Glas, »wenn du Leif überhaupt nicht beachtet hättest. Ebenso hätte er dein Verhalten einfach nicht beachten sollen. So aber habt ihr mir alle beide Schande gemacht! Das, was ihr hier angerichtet habt, wieder einigermaßen in Ordnung zu bringen, ehe unsere Gäste eintreffen, bedeutet eine Menge Arbeit. Das Fest heute Abend muss leider verschoben werden.« Aus der Menge erschollen Unmutslaute. »Aber erst noch zu euren Strafen. Leif – dein Aufzug und dein Benehmen sind schändlich. Am liebsten würde ich dich von der Versammlung ausschließen, aber du bist nun einmal Arnkels Erbe und musst dabei sein. Dir soll die Blamage als Strafe genügen. Jetzt geh und wasch dich in der Pferdetränke.«
Leif trottete mit hängendem Kopf davon. »Nun zu dir, Hal«, fuhr Astrid fort.
»Er ist doch noch ein Kind!«, rief Brodir dazwischen. »Sein jugendlicher Übermut ist mit ihm durchgegangen! Das Durcheinander hier haben wir doch im Handumdrehen wieder aufgeräumt...«
Astrid unterbrach ihn mit kalter, hoher Stimme: »Wir alle hier erinnern uns nur allzu gut an deinen jugendlichen Übermut, Brodir. Wir haben bitter dafür bezahlen müssen.«
Ihre Blicke durchbohrten ihn förmlich. Brodir wurde puterrot, aber seine Lippen waren weiß, weil er sie so fest zusammenkniff. Er wollte etwas sagen, klappte dann den Mund aber wieder zu, machte auf dem Absatz kehrt und verschwand in der Menge.
Astrid wandte sich wieder an Hal. »Die Versammlung beginnt übermorgen. Es wird ein festliches Ereignis und sogar unsere Hirtin Gudrun wird sich von früh bis spät prächtig amüsieren. Alle werden sich amüsieren – nur du nicht, Hal. Du bist für die Dauer der Versammlung von der Festwiese verbannt und vom Festmahl in der Großen Halle ausgeschlossen. Du wirst kein Bier trinken und keinen Braten essen. Die Köche sollen dir in der Küche die Reste vorsetzen. Vier Tage lang wird es sein, als wärst du wieder oben bei deinen Hügelgräbern.Vielleicht lernst du dann endlich, dich zu beherrschen und zu benehmen.«
Hal erwiderte nichts. Er sah seine Mutter nur mit brennenden Augen an.
Als er den Hof verließ, gelang es Hal trotzig, eine aufrechte und stolze Haltung zu bewahren, doch als er in den Räumen der Familie angelangt war, ließ er den Kopf sinken, und sein Schritt wurde schleppend. Er warf sich aufs Bett und starrte stumm an die Decke. Draußen auf dem Korridor hörte er die Diener, seine Eltern und Geschwister hin und her laufen. Jedes Mal glaubte er, jemand würde bei ihm hereinschauen, er hoffte es sogar, ganz gleich, wie verärgert derjenige sein mochte. Aber ob nun aus Ärger oder schlicht aus Gleichgültigkeit, niemand kam nach ihm sehen.
Er wollte schon versuchen zu schlafen, als seine Amme Katla die Tür öffnete und mit einem Teller voller Hühnchen, Rüben und rotem Kohlgemüse hereinkam. Den stellte sie auf Hals Bett ab und zwinkerte ihm zu.
»Hab mir gedacht, du hast vielleicht Hunger, mein Lieber.«
»Stimmt.«
»Dann iss.«
Hal setzte sich auf und fiel über den Teller her.
Weitere Kostenlose Bücher