Vampir-Expreß
die Tante davon.«
»Für sie ist es das vielleicht«, erwiderte ich. »Doch nicht für einen normalen Menschen.«
»Dann bin ich normal?« Fast bittend schaute sie mich an, um eine Bestätigung zu bekommen.
Ich nickte. »Ja, Vera, Sie sind normal. So normal wie wir alle. Nur ein wenig anders erzogen. Sollten Sie jedoch einmal von Ihrer Tante wegkommen, wird sich das rasch geben, und nichts unterscheidet Sie mehr von anderen jungen Damen Ihres Alters.«
»Das kann ich Ihnen nicht glauben«, sagte sie und senkte den Kopf »Der Einfluss meiner Tante ist einfach zu stark.«
»Dann schütteln Sie ihn ab!« Dragan hatte gesprochen.
Zum erstenmal lächelte Vera. »Das kann nur jemand sagen wie Sie, mein Lieber. Ich habe 21 Jahre bei meiner Tante verbracht. Ich bin nie aus dem Haus gekommen, lebte wie eine Gefangene in der großen Pariser Wohnung, bekam eine Privatlehrerin, die mir alles beibrachte, ansonsten erzog mich nur meine Tante in ihrem Sinne.« Vera schaute auf das Kreuz. Es steckte noch in ihrer Faust. Dann ließ sie den Arm sinken und legte es wieder zurück.
Ich nahm es an mich, sah mir ihre Handfläche an und entdeckte keinen Abdruck.
Ein Vampir war sie also nicht. Obwohl man sie gezwungen hatte, Blut zu trinken. Darauf kam ich noch einmal zurück.
»Sagen Sie, Vera. Welches Blut haben Sie getrunken? War es Menschen-oder Tierblut?«
»Ich weiß es nicht.«
»Woher hat Ihre Tante das Blut bekommen?«
Sie hob die Schultern. »Das kann ich Ihnen auch nicht sagen. Sie hatte es jedenfalls.«
»War sie jemals verheiratet?«
Erstaunt sah mich Vera an »Nein, nie. Meine Tante kenne ich nur als Junggesellin.«
»Es gab auch keine Männer in ihrem Leben?«
»Im Prinzip nicht«
»Aber?«
»Einen gab es schon, für den sie schwärmte. Es war ein Ahnherr aus Rumänien Sein Bild hing auch in einem unserer Zimmer. Wenn er Geburtstag hatte, wurden schwarze Kerzen angezündet.«
»Wissen Sie seinen Namen?«
»Ja, Boris Bogdanowich.«
»Ein Bruder?«
»Nein, ein Ahnherr. Er stammte wie wir aus Rumänien.«
Ich schaute auf Dragan »Wissen Sie davon?« erkundigte ich mich bei ihm. »Haben Sie jemals von einem Boris Bogdanowich gehört?«
Er hob die Schultern. »Ich überlege schon die ganze Zeit. Nein, ich glaube nicht, dass mir der Name schon mal untergekommen ist.«
»Vielleicht müssten Sie mal in der Historie Ihres Landes forschen«, sagte ich. »Dann wird es vielleicht zu spät sein.«
Ich wandte mich wieder an Vera. »Hat Ihre Tante davon gesprochen, wann dieser Boris gestorben ist?«
»Er ist nicht tot.«
Ich horchte auf »Was sagten Sie? Nicht tot?«
»Nein. Sie ist der festen Überzeugung, dass er noch lebt, denn sie wusste, dass Leute wie er niemals sterben können. Die überleben die Jahrhunderte.«
»Dann ist er ein Vampir!« erklärte Dragan Domescu mit fester Stimme.
Der Ansicht war ich auch, ohne sie allerdings auszusprechen »Hatte Ihre Tante Kontakt zu ihm?«
»Wie meinen Sie das?«
»Hat sie ihn besucht? Ist er zu Ihnen gekommen? Alles ist möglich, wenn er nicht starb.«
»Das weiß ich ja eben nicht.« Veras Gesicht zeigte einen gequälten Ausdruck.
»Wie sind Sie überhaupt darauf gekommen, sich an dieser Fahrt zu beteiligen?« wollte ich wissen.
»Es war eine Idee meiner Tante. Vor zwei Wochen kam sie an und sagte: Jetzt ist es soweit. Bald wirst du erleben, was es heißt, eine Bogdanowich zu sein. Die Zeichen, auf die ich so lange gewartet habe, stehen günstig. Du wirst richtig in die Familie aufgenommen…«
Ich hörte nicht mehr hin, denn jemand hatte den Speisesaal betreten. Diesmal konnte ich die Person sehen.
Es war Ada Bogdanowich!
Obwohl sie sich noch nahe der Tür aufhielt, hatte sie sofort entdeckt, wer da an unseren Tisch gekommen war. Sie stand noch für einen Moment still, dann rauschte sie heran. Wie eine lebendige Mumie auf Rachetour. Ihr graues Gesicht unter dem Schleier hatte sich verzerrt, der Mund stand offen, sie schien die Worte bereits auf den Lippen zu haben, die sie ihrer Nichte entgegenschleudern wollte, und ich sagte leise: »Ihre Tante kommt, Vera!«
Ein erstickt klingender Schrei drang aus dem Mund des Mädchens. Vera erstarrte vor Angst, während Dragan ihr eine Hand auf die Schulter legte. Neben dem Tisch blieb die Alte stehen. Wenn man sie so ansah, konnte man schon Angst vor ihr bekommen. Sie hatte nur Blicke für ihre Nichte, und ihre Augen schienen zu blitzenden Dolchen geworden zu sein. »Du wagst es?« zischte sie. »Du wagst es
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