Vampir sein ist alles
es keine Magie wäre.“
Der Mond begann bereits unterzugehen. Rund und voll stand er über der Krone eines Zuckerahorns. Lilith jagte einen Schauder über meinen Bauch. Wenn jemand an solche Dinge glaubte, dann war ich es; doch mit der Vorstellung, dass Micah die Gestalt wechselte, konnte ich mich nicht so recht anfreunden. „Im Ernst?“, fragte ich. „Du schrumpfst und lässt dir Fell wachsen?“
Er schüttelte den Kopf. „Nein, ich schrumpfe nicht. Ich bin Kojote.“
Das war absolutes Indianer-Zen. Ich nahm an, er wurde bildlich gesprochen zum Kojoten.
Inzwischen waren wir bei mir angekommen. Ich blieb vor der Treppe zur Haustür stehen. Von den Maulbeeren des Nachbarn war der Gehsteig voller dunkelvioletter Flecken. In meiner Küche brannte Licht, und ich sah Barneys Schattenriss im Turmfenster.
„Hier wohne ich“, sagte ich.
Micah grinste mich verschmitzt an. „Nimmst du mich noch mit rauf?“
Unter anderen Umständen wäre so ein Angebot durchaus verlockend gewesen, aber da Sebastian verschwunden und möglicherweise in Gefahr war und ich so gut wie gar nichts über Micah wusste ... „Tut mir leid“, sagte ich. „Heute nicht.“
„Heißt das, vielleicht ein andermal?“
Ich schüttelte den Kopf. „Ich muss erst mal Sebastian finden.“
Er nickte verständnisvoll, machte aber keine Anstalten zu gehen. Ich hörte, wie Barney oben am Fenster miaute. Nach einer Pause wollte Micah wissen: „Wie lange, sagtest du, ist Lilith schon bei dir?“
Das hatte ich überhaupt nicht erwähnt. „Ungefähr anderthalb Jahre“, antwortete ich. „Warum?“
„Je länger SIE bei dir ist, desto mehr werdet ihr eins.“
Ein beängstigender Gedanke. Liliths Persönlichkeit ließ sich am besten mit den Worten „Tod und Zerstörung“ umschreiben. Ihr düsteres, unheilvolles Wesen passte eigentlich gar nicht zu meinem Lebensstil. Die Vorstellung, der Höllenkönigin mit jedem Jahr ähnlicher zu werden, war ziemlich erschreckend. „Bist du sicher?“, fragte ich. „Ich meine, woher weißt du das alles?“
„Ich kann es in deinen Augen sehen. Es hat schon angefangen“, entgegnete Micah mit unergründlicher Miene.
Wenn mir ein Typ mit so einem billigen Spruch kam, lachte ich ihn normalerweise aus, aber meine Augen waren gewissermaßen die Narben, die ich von der Nacht davongetragen hatte, in der Lilith über mich gekommen war. Sie hatten ihre Farbe verändert, von Hellblau zu Dunkelviolett. „Wann ...“ Ich senkte meine Stimme, obwohl ich wusste, dass es ziemlich töricht war. Als könnte mich die Göttin so nicht hören! „Wann müssten wir es denn tun? Ich meine, wenn ich es wollte.“
„Je eher, desto besser. Garnet, überleg doch mal, warum SIE immer noch bei dir ist. Was hat Lilith von eurer Übereinkunft? Ist SIE zufrieden mit dem, was SIE hat?“
Nun war ich wirklich beunruhigt. Lilith hatte schon häufiger Interesse daran gezeigt, die Kontrolle über meinen Körper zu übernehmen. Einmal hatte ich SIE sogar magisch in Schach halten müssen, damit SIE meinen Körper nicht zu IHRER Marionette machen konnte. Was hatte Micah mit „zusammengeschweißt“ gemeint? Hatte ich Lilith mit meinem Zauber an mich gebunden? „Worauf willst du eigentlich hinaus? Meinst du, Lilith plant so eine Art Übernahme?“
Micah legte den Kopf schräg. „SIE hat es doch schon versucht, nicht wahr?“
Mein Mund war ganz trocken. Ich nickte.
„Du musst sie unbedingt loswerden.“
„Ich weiß nicht“, sagte ich. Ich war noch nicht überzeugt. Micah erschien mir in vielerlei Hinsicht nicht vertrauenswürdig. Zum Beispiel wusste ich nicht, warum er überhaupt so besorgt um mich war. Was war seine Motivation? Was hatte er damit gemeint, als er gesagt hatte, er könne mich von Lilith befreien? Wollte er SIE am Ende selbst übernehmen?
Micah schüttelte den Kopf, als könnte er meine Gedanken lesen. „Es ist die Macht, nicht wahr?“
„Was?“
„Die Macht“, wiederholte er. „Diese pure, urgewaltige Energie. Das ist schon berauschend, und ich kann es dir nicht verdenken, wenn du sie behalten willst. Die meisten würden so etwas freiwillig nicht wieder hergeben.“
Ich schürzte die Lippen. „Willst du damit sagen, dass ich Lilith nur behalte, weil ich es gut finde, Zugang zu IHRER Magie zu haben?“
„Stimmt es denn nicht?“
Bevor ich antworten konnte, drehte sich Micah um und ging. Ich schaute ihm nach, wie er den Gehsteig hinunterschlenderte. Unter den Bäumen, die die Straße säumten, war es
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