Vampirdämmerung / Roman
neues Zuhause war, schufen sie einen Avatar. Er bescherte ihnen Sonne, Wind und Wälder und machte die Burg zu einem wunderschönen Rückzugsort.«
Mac schnitt einen Streifen von seinem Steak ab, worauf sich rosa Saft unter der Schnittstelle sammelte. »Also war sie ursprünglich ganz nett?«
Constance blickte auf den Fleischsaft, und die Knochen über ihren Eckzähnen fingen zu schmerzen an, sehnten sich danach zu beißen. Hastig nippte sie an ihrem Wein und weigerte sich, Angst zu bekommen.
Bald wird er sein Fleisch aufgegessen haben, und dann ist alles wieder gut.
»Ja, aber die Avatarmagie verebbte vor langer Zeit, und die Burg wurde zu dem, was man heute sieht.«
»Wie konnte sie verebben?«
»Atreus nutzte seine Zauberkünste, um den Avatar in eine lebendige Frau zu verwandeln. Es dauerte Hunderte und Aberhunderte von Jahren, und dabei schwand ihre Macht über die Burg. All ihre Magie wurde aufgebraucht, um ihr Fleisch und Blut zu verleihen, und die Burg wurde zu dem finsteren Kerker, der sie jetzt ist.«
Mac fiel die Gabel aus der Hand. »Dann wusstest du es die ganze Zeit? Wieso hast du nichts gesagt?«
Für einen winzigen Moment war Constance verärgert. »Du hast nie gefragt. Ich ahnte nicht, dass es dich interessiert.«
Doch er war schon beim nächsten Punkt. »Atreus sagte, dass er den Avatar getötet hat. Und dass sie die Mutter seines Kindes war.«
Constance hielt erschrocken den Atem an. »Ein Kind? Ich habe nie von einem Kind gehört. Was die Tötung angeht: Alle wissen, dass sie ganz einfach starb! Der Legende nach hatte Atreus sie im Sommerzimmer eingesperrt. Deshalb ist der Raum so besonders.«
»Sie wohnte im Sommerzimmer? Denkst du, das ist wahr?«
»Weiß ich nicht. Ich fand den Raum selbst erst vor kurzem. Er geriet in Vergessenheit.«
Mac nahm noch einen Bissen Fleisch und kaute. »Ich frage mich, warum er sie tötete – falls er es getan hat. Und wann.«
Constance wurde ein wenig übel. »Wer weiß? Keiner entsinnt sich, sie jemals gesehen zu haben. Vielleicht hat er sie sich bloß eingebildet. Immerhin ist sein Geist recht wirr.«
Die Gabel halb zum Mund erhoben, hielt Mac inne. »Entschuldige! Das ist ein lausiges Thema für eine Unterhaltung beim Abendessen.«
Constance drehte den Salzstreuer in ihrer Hand und bemühte sich, nicht das blutige Steak anzusehen. »Du brauchst dich nicht zu entschuldigen. Du löst gern Rätsel. Ich auch.«
Er legte seine Gabel ab, streckte die Hand über den Tisch und drückte die ihre. Seine Berührung war heiß, und Constances Leib erwärmte sich freudig. »Danke.«
Das brachte sie zum Lächeln. »Ich denke, der Grund, weshalb Männer und Frauen ausgehen, ist allein der, die Vorfreude auszukosten.«
Sein Lächeln war überaus maskulin. »Ich werde die Nachspeise überspringen.«
»Möchtest du die Vorfreude denn nicht verlängern?«
»Ich bin auch bloß ein Mensch.« Ein Ausdruck von Verwirrung huschte über seine Züge. »Na ja, oder auch nicht.«
Constance grinste. »Ach was, die Liebe ist wie eine Ballade. Sie hat sehr viele Strophen.«
»O nein, hör bloß auf! Ich kenne diese alten keltischen Lieder. Am Ende sterben alle ganz scheußlich, normalerweise bei der Hochzeitsfeier. Da möchte ich wahrlich keine Hauptrolle spielen.«
Connie schmollte. »Das sind doch bloß die ersten Lieder. Danach spielen sie die Tänze.«
»Kelten! Ein Haufen Manisch-Depressiver mit Dudelsäcken.«
»Das ist nicht nett.«
Er zog eine Braue hoch. »Sie sind meine Verwandten. Ich stamme von Schafdieben ab, die dem falschen König Treue schworen.«
Constance neigte den Kopf. »Meine Familie, nun, wir waren nur wir. Wir besaßen nie eigenes Land.«
»Das tut heutzutage kaum noch jemand.«
Erstaunt blickte sie zu ihm auf und bemerkte, dass er sie ein wenig amüsiert betrachtete. »Warum nicht?«
»Es ist anders. Heute gibt es viele Möglichkeiten, sich seinen Lebensunterhalt zu verdienen, nicht nur die Landwirtschaft. Jeder kann zur Schule gehen, Jungen wie Mädchen. Das heißt, auch du könntest es, wenn du willst.«
»Aber Atreus lehrte mich Lesen und Schreiben.«
»Das öffnet dir lediglich eine Tür. Hinter dieser wartet eine ganze Welt.«
Das hätte Constance entzücken sollen, doch sie hörte ihm kaum zu. Vor lauter Verwunderung und von dem Wein – oder etwas anderem – war sie wie benommen. Ihre Kiefer schmerzten, und sie fühlte ein Stechen dort, wo sich angeblich ihr Gift befand.
Das ist irgendwie falsch.
Ihre Vernunft sagte ihr,
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