Vampire Academy 04
und sie zwingen könnten, sich in Sicherheit zu bringen …“
Oksana schüttelte den Kopf. „Angenommen, Moral wäre kein Thema, so kann ich trotzdem nicht in jemanden hineinreichen, der nicht wirklich anwesend ist – geschweige denn in jemanden, dem ich noch nie begegnet bin.“
Ich fuhr mir mit der Hand durchs Haar, Panik machte sich breit. Ich wünschte, Oksana wüsste, wie man traumwandelt. Das würde sie zumindest befähigen, weite Entfernungen zu überwinden. All diese Geistkräfte schienen sich voneinander zu unterscheiden, und jeder hatte irgendeine zusätzliche Nuance. Jemand, der in Träumen wandeln konnte, wäre vielleicht auch in der Lage, den nächsten Schritt zu machen und jemanden zu besuchen, der wach war.
Dann kam mir eine noch verrücktere Idee. Was für ein bahnbrechender Tag. „Oksana … Sie können in meinen Geist eindringen, richtig?“
„Ja“, bestätigte sie.
„Falls ich … falls ich zu der Zeit im Kopf meiner Bundgefährtin wäre, könnten Sie zuerst in mich hineingreifen und dann in sie? Könnte ich, hm, die Verbindung zwischen Ihnen beiden sein?“
„Von etwas Derartigem habe ich noch nie gehört“, murmelte Mark.
„Das liegt nur daran, dass wir es noch nie zuvor mit so vielen Geistbenutzern und Schattengeküssten zu tun hatten“, bemerkte ich schlau.
Abe wirkte verständlicherweise vollends verwirrt.
Ein Schatten fiel über Oksanas Gesicht. „Ich weiß nicht …“
„Entweder, es funktioniert, oder es funktioniert nicht“, sagte ich. „Wenn nicht, ist schließlich auch kein Schaden entstanden. Aber sollten Sie Lissa durch mich erreichen … können Sie sie mit Zwang belegen.“ Sie begann zu sprechen, und ich unterbrach sie. „Ich weiß, ich weiß … Sie halten es für falsch. Aber was ist mit dieser anderen Geistbenutzerin? Sie ist diejenige, die unrecht tut. Sie brauchen Lissa nur zu zwingen, sich in Sicherheit zu bringen. Sie steht kurz davor, aus einem Fenster zu springen! Halten Sie sie jetzt auf; dann kann ich morgen oder so zu ihr fliegen und die Dinge in Ordnung bringen.“
Mit in Ordnung bringen meinte ich, dass ich Averys hübsches Gesicht mit einem dicken blauen Auge verzieren würde.
Im Laufe meines bizarren Lebens hatte ich mich mittlerweile so ziemlich daran gewöhnt, dass Leute – vor allem Erwachsene – meine ausgefallenen Ideen und Erklärungen erst mal zurückwiesen. Ich hatte es unglaublich schwer gehabt, die Leute davon zu überzeugen, dass Victor Lissa entführt hatte, und genauso schwer war es gewesen, den Wächtern glaubhaft zu versichern, dass die Schule angegriffen wurde. In solchen Situationen rechnete ein Teil von mir schon fast von vornherein mit Widerstand. Doch die Sache war die: So stabil Oksana und Mark auch sein mochten, sie hatten den größten Teil ihres Lebens mit dem Element Geist gekämpft. Daher war Verrücktheit gewissermaßen völlig normal für sie, und nach einer kurzen Bedenkzeit erhob Oksana keine Einwände mehr.
„Also gut“, sagte sie. „Geben Sie mir Ihre Hände.“
„Was geht hier vor?“, fragte Abe, der immer noch absolut keinen Schimmer hatte. Es bescherte mir eine gewisse Genugtuung, ihn ausnahmsweise einmal ratlos zu sehen.
Mark murmelte Oksana auf Russisch etwas zu und küsste sie auf die Wange. Er verurteilte ihre Entscheidung nicht, sondern warnte sie nur, vorsichtig zu sein. Ich wusste, dass er das Gleiche wollen würde, wenn sie an Lissas Stelle gewesen wäre. Die Liebe zwischen ihnen war so groß und so stark, dass sie mich beinahe meine Entschlossenheit kostete. Denn diese Art von Liebe erinnerte mich an Dimitri, und wenn ich mir gestattete, auch nur einen Augenblick länger an ihn zu denken, würde ich die letzte Nacht noch einmal durchleben müssen …
Ich nahm Oksanas Hände, und mein Magen verkrampfte sich vor Furcht. Mir gefiel der Gedanke nicht, dass jemand in meinen Kopf eindrang – auch wenn das im Grunde ein ziemlich scheinheiliges Gefühl für jemanden war, der ständig Ausflüge in den Geist seiner besten Freundin unternahm. Oksana lächelte mir schwach zu, obwohl sie offensichtlich genauso nervös war wie ich.
„Es tut mir leid“, sagte sie. „Ich hasse es, das jemandem anzutun …“
Und dann spürte ich genau das, was geschehen war, als Avery mich aus Lissas Kopf gestoßen hatte. Es fühlte sich an wie eine körperliche Berührung meines Gehirns. Ich sog scharf die Luft ein und schaute in Oksanas Augen, während heiße und kalte Wellen mich durchpulsten. Oksana war in
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