Vampire Academy 06 ● Schicksalsbande
zu verbleiben. Wir hatten ein gewisses Stimmrecht, ja, aber der König oder die Königin gestaltete doch unsere Zukunft.
Die Wächter, die sich um die Menge zu kümmern hatten, gaben den Familienmitgliedern schließlich grünes Licht, sich durch die Massen zu drängen und ihre Kandidaten abzuholen. Lissa jedoch hatte niemanden. Sowohl Janine als auch Eddie bekamen – trotz ihrer früheren Versicherungen – hin und wieder zeitlich begrenzte Aufträge, weshalb sie nicht vierundzwanzig Stunden am Tag bei Lissa sein konnten, und sie hatte gewiss keine Familienangehörigen, die sie abholen konnten. In dem Chaos wurde ihr ganz schwindelig, und sie war von ihrem Augenblick der Klarheit noch immer benommen. Widersprüchliche Emotionen lagen in ihr im Wettstreit. Dass sie alle täuschte, verlieh ihr das Gefühl, dass sie in Wahrheit unwürdig sei und ihre Kandidatur auf der Stelle zurückziehen solle. Gleichzeitig wollte sie sich aber auf einmal der Wahlen als würdig erweisen. Sie wollte stolz und mit hoch erhobenem Kopf in die Prüfungen gehen, selbst wenn sie dabei Hintergedanken hegte.
Schließlich legte sich eine starke Hand um ihren Arm. Christian. „Komm! Verschwinden wir von hier.“ Er zog sie weg, durch die dicht gedrängte Menge von Zuschauern. „He!“, rief er zwei Wächtern am Rand der Menge zu. „Könnt ihr der Prinzessin hier mal helfen?“
Ich erlebte jetzt zum ersten Mal, dass er sich wie ein Royal verhielt und auf die Autorität seiner Blutlinie pochte. Für mich war er der bärbeißige zynische Christian. In der Gesellschaft der Moroi konnte er mit seinen achtzehn Jahren jetzt – formal gesehen – als Lord Ozera angesprochen werden. Das hatte ich vergessen. Die beiden Wächter allerdings nicht. Sie eilten an Lissas Seite und halfen Christian, sich einen Weg durch die Menge zu bahnen. Die Gesichter um sie herum verschwammen, der Lärm war ein dumpfes Tosen. Doch ab und zu drang etwas zu ihr durch. Die rhythmische Wiederholung ihres Namens. Rufe, die die Rückkehr des Drachen verkündeten, des Symbols der Familie Dragomir. Dies ist Wirklichkeit, dachte sie immer wieder. Dies ist Wirklichkeit.
Die Wächter führten sie geschickt aus dem Gedränge und über das Gelände des Hofes zu ihrem Gebäude zurück. Sie ließen sie los, sobald sie der Meinung waren, dass sie sich in Sicherheit befand, und sie bedankte sich huldvoll für ihre Hilfe. Als sie und Christian in Lissas Zimmer waren, ließ sie sich benommen aufs Bett fallen.
„Oh mein Gott!“, sagte sie. „Welch ein Irrsinn!“
Christian lächelte. „Welchen Teil meinst du jetzt? Deine Willkommen-daheim-Party? Oder die Prüfung selbst? Du siehst aus, als hättest du gerade .... na ja, ich weiß ja auch gar nicht so richtig, was du gerade getan hast.“
Lissa unterzog sich einer schnellen Musterung. Sie hatten ihr auf der Rückfahrt trockene Handtücher gegeben, aber ihre Kleidung war trotzdem immer noch feucht und wurde beim Trocknen faltig. Ihre Schuhe und Jeans waren schlammbeschmiert, und sie mochte nicht einmal darüber nachdenken, wie ihr Haar wohl aussah.
„Ja, wir .... “
Die Worte steckten ihr in der Kehle fest – und das nicht nur, weil sie plötzlich beschloss, ihm nichts zu sagen.
„Ich kann es nicht erzählen“, murmelte sie. „Es hat doch wirklich funktioniert. Der Zauber erlaubt es mir nicht.“
„Welcher Zauber?“, fragte er.
Lissa krempelte ihren Ärmel hoch, hob den Verband leicht an und zeigte Christian den winzigen eintätowierten Punkt auf ihrem Arm. „Es ist ein Zwangzauber, damit ich nicht über die Prüfung spreche. So etwas, wie es auch die Alchemisten haben.“
„Wow!“, sagte er, aufrichtig beeindruckt. „Ich hätte nie gedacht, dass die so wirken.“
„Ich glaube, ja. Es ist wirklich komisch. Ich will darüber reden, aber ich .... kann einfach nicht.“
„Schon gut“, sagte er und strich ihr eine feuchte Haarsträhne aus dem Gesicht. „Du hast bestanden. Das ist alles, was zählt. Konzentriere dich einfach darauf.“
„Das Einzige, worauf ich mich im Augenblick konzentrieren will, ist eine Dusche – was doch irgendwie seltsam ist, wenn man bedenkt, wie durchnässt ich bin.“ Sie bewegte sich jedoch nicht und starrte stattdessen die Wand an.
„He“, murmelte Christian sanft. „Was ist los? Hat dir die Menge Angst gemacht?“
Wieder wandte sie sich ihm zu. „Nein, das ist es ja gerade. Ich meine, sie war einschüchternd, ja schon. Aber mir ist gerade klar geworden .... ich weiß
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