Vampire Academy 06 ● Schicksalsbande
gestürzt, Lissas Bruder oder Schwester zu finden – ihre Schwester, wie wir jetzt wussten –, und mir kaum Gedanken über die Konsequenzen gemacht. Ich hätte wissen sollen, dass die Sache vor fast allen Leuten geheim gehalten worden war – einschließlich des besagten Kindes. Ich hatte auch nicht bedacht, was für ein Schock es für sie wäre. Und es war ja auch nicht einfach eine x-beliebige Fremde. Es war Jill. Jill. Meine Freundin. Also das Mädchen, das für uns alle wie eine kleine Schwester war, das Mädchen, auf das wir immer aufpassten. Was tat ich ihr da an? Als ich John einen Blick zuwarf, wurde mir klar, dass die Sache noch schlimmer war. Hielt Jill ihn denn für ihren Vater? Diese Familie würde in Kürze bis in ihre Grundfesten erschüttert werden – und ich allein war dafür verantwortlich.
„Nein!“, rief Emily und sprang abermals auf. „Raus mit euch! Mit euch allen! Ich will euch nicht hier haben!“
„Mrs Mastrano .... “, setzte ich an. „Sie können nicht die Augen davor verschließen. Sie müssen sich der Sache stellen.“
„Nein!“ Sie zeigte zur Tür. „Raus! Verschwinden Sie, oder ich werde .... ich werde die Polizei rufen! Oder die Wächter! Sie .... “ Jetzt kam ihr eine Erkenntnis, nachdem sich der erste Schock darüber, Sonya zu sehen, gelegt hatte. Victor war nicht der einzige Kriminelle, nach dem die Moroi suchten. „Sie sind ein Flüchtling! Eine Mörderin!“
„Das ist sie nicht!“, sagte Jill und beugte sich vor. „Ich habe es dir doch erklärt, Mom. Ich habe dir schon mal gesagt, dass es ein Irrtum war .... “
„Raus!“, wiederholte Emily.
„Wenn Sie uns wegschicken, ändert das aber nichts an der Wahrheit“, sagte ich und zwang mich, ruhig zu bleiben.
„Würde mir bitte irgendjemand mal verraten, was hier eigentlich los ist, verdammt?“ Johns Gesicht war gerötet, zeigte Wut und Abwehr. „Wenn ich nicht in dreißig Sekunden eine Antwort bekomme, werde ich die Wächter und die Polizei rufen.“
Ich sah zu Jill hinüber und konnte nicht sprechen. Ich wusste nicht, wie ich sagen sollte, was ich sagen musste, zumindest nicht taktvoll. Sydney hatte dieses Problem jedoch nicht.
„Er ist nicht dein Vater“, gab sie nun unumwunden zu und zeigte auf John.
Die Leute im Raum erstarrten für einen winzigen Moment. Jill wirkte fast enttäuscht, so als hätte sie auf aufregendere Neuigkeiten gehofft.
„Das weiß ich doch. Er ist mein Stiefvater. Oder, na ja, für mich ist er schon mein Dad.“
Emily sank aufs Sofa zurück und begrub das Gesicht in den Händen. Sie schien zu weinen, aber ich war mir ziemlich sicher, dass sie jeden Moment aufspringen und die Behörden verständigen konnte. Wir mussten diese Sache also möglichst schnell hinter uns bringen, wie schmerzlich sie auch werden mochte.
„Stimmt. Er ist nicht dein leiblicher Vater“, sagte ich und sah Jill gelassen an. Die Augen. Warum waren mir denn die Augen nie aufgefallen? „Dein Vater ist Eric Dragomir.“
Emily stieß ein leises Jammern aus. „Nein“, flehte sie. „Bitte, tun Sie das nicht!“
Johns Ärger verwandelte sich wieder in die Verwirrung, die in diesem Zimmer offenbar gerade so in Mode gekommen war. „Was?“
„Das .... nein.“ Jill schüttelte langsam den Kopf. „Das ist unmöglich. Mein Vater war einfach .... einfach irgendein Mann, der uns sitzen gelassen hat.“
Was in gewisser Weise bestimmt nicht weit von der Wahrheit entfernt war. „Es war Eric Dragomir“, sagte ich. „Du bist Teil ihrer Familie. Lissas Schwester. Du bist .... “ Ich erschrak selbst, als ich begriff, dass ich Jill nun auf eine vollkommen neue Weise betrachten musste. „Du bist eine Royal.“
Jill war immer voller Energie und Zuversicht und ging mit einer naiven Hoffnung und viel Charme durch die Welt. Aber jetzt wirkte ihr Ausdruck grimmig und nüchtern, sodass sie älter aussah als ihre fünfzehn Jahre. „Nein. Das ist doch ein Scherz. Mein Dad war ein ganz mieser Typ. Ich bin nicht .... nein. Rose, hör bitte auf!“
„Emily.“ Beim Klang von Sonyas Stimme zuckte ich zusammen, überrascht, sie überhaupt sprechen zu hören. Noch mehr überraschte mich aber ihre Miene. Autoritär. Ernst. Entschlossen. Sonya war jünger als Emily, etwa – wie viel? Zehn Jahre, wenn ich hätte schätzen müssen. Aber Sonya hatte ihre Cousine mit einem harten Blick fixiert, unter dem Emily wie ein unartiges Kind aussah. „Emily, es wird Zeit, das Possenspiel aufzugeben. Du musst es ihr jetzt sagen.
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