Vampire küssen besser
konnte. Kontrolle ist für mich jedoch in vielerlei Hinsicht von großer Bedeutung – obwohl das Paradox meines Lebens darin besteht, dass ich, wenn ich als Vampir am mächtigsten bin, die geringste Kontrolle über mich habe. In dem Zustand bewege ich mich auf einem schmalen Grat zwischen entfesseltem Trieb und klarem Verstand. Bei diesem Gedanken fing ich an zu frösteln, und meine Hände wurden kalt wie Eis. Stumm sagte ich den Spruch auf, der mir bisweilen hilft, mein Selbstvertrauen zu stärken:
Ich besitze die innere Kraft und die Disziplin, alles, was ich tun will, zu erreichen.
Als der Aufzug anhielt und die Tür aufglitt, hatte ich diesen Spruch bestimmt zehnmal wie ein Mantra aufgesagt. Er hatte seine Wirkung getan, denn ich war eine selbstsichere Geschäftsfrau geworden, mit kerzengerader Haltung, kühl und gebieterisch. Draußen wartete eine Bedienstete, der ich grußlos meinen Mantel überreichte. Sie nahm ihn entgegen und bedeutete mir, ihr zu folgen. Vor mir befanden sich zwei Türen. Bei der zur Linken in dumpfem Grün handelte es sich offenbar um einen Dienstboteneingang, mit einem Dienstbotenlift wie dem, der mich nach oben gebracht hatte. Über die zur Rechten war in der Art des
trompe l’œil
eine mittelalterliche Stadt gemalt. Sie bedeckte die gesamte Wand. Ich glaubte, die kopfsteingepflasterte Straße nach San Gimignano zu erkennen, und fand das Ganze recht gelungen. Die Tür selbst trug ein aufgemaltes Steinmuster und öffnete sich zu Bonaventures prächtigem Penthouse, das hell erleuchtet und restlos überladen war. Das letzte Mal hatte ich so viel Satinglanz und Goldglitzer in der Wohnung von Donald Trump erblickt, und hier wie da lautete die Botschaft: Ich habe so viel Geld – wenn ich nur wüsste, wohin damit.
Die Dienstbotin war Slawin, eine dickleibige Frau mittleren Alters, mit stämmigen Beinen in Stützstrümpfen unter dem schwarzen Rock ihrer Dienstbotenuniform. Sie führte mich durch die Wohnung in ein nach hinten gelegenes Zimmer, das sich als Bibliothek entpuppte. Die Bücher sahen aus wie Dekoration, und der Konferenztisch war etwas nachgemacht Französisches in golden und weiß. Auch die Stühle waren golden und weiß, mit rosafarbenen Sitzbezügen. Nicht mein Geschmack, aber irgendjemand hatte dafür tief in die Tasche gegriffen.
Mürrisch teilte die Dienstbotin mir mit, »der Herr« käme gleich, zog mir jedoch einen Stuhl heraus, so dass ich mich am Tisch niederlassen konnte. Gleich nachdem sie verschwunden war, öffnete ich die Handtasche und kramte meinen Lippenstift und die verspiegelte Puderdose mit den Wanzen hervor. Ich klappte die Dose auf und ließ, während ich meinen Lippenstift auffrischte, zwei Wanzen in meine Hand gleiten. Die Geschicklichkeit meiner Hände – sie war ein wenig eingerostet gewesen – hatte ich zu Hause trainiert. Beim Zurückstecken der Puderdose brachte ich eine der Wanzen unter der Tischkante an. Selbst wenn man mich elektronisch überwachte, und davon ging ich aus, wäre meine Geste unmerklich gewesen. Nur falls man das Aufnahmeband später in Zeitlupe abspielte, ließe sich vielleicht etwas erkennen. Die Wanze unter dem Tisch anzubringen war gewiss nicht originell, doch die Anweisungen hatten lediglich besagt, sie nicht in der Nähe einer Heizquelle zurückzulassen.
Anschließend klappte ich meine Aktentasche auf und zog die Mappe mit den Fotos aus der Schneibelschen Sammlung heraus. Dann ließ ich den Blick über die Buchrücken wandern, stutzte, als hätte ich einen interessanten Titel entdeckt, stand auf und trat an das Regal. Dort reckte ich mich, um das fragliche Buch hervorzuziehen, hielt mich an einem Regalbrett fest und brachte darunter die zweite Wanze an. Anschließend bewunderte ich das Buch, das aussah, als sei es nie aufgeschlagen worden. Es war Butlers
Leben der
Heiligen.
Ich stand noch mit dem Buch in der Hand, als sich die Tür öffnete. Bonaventure kam herein, flankiert von zwei Männern. Der eine war kaukasischer Herkunft, von massiger Statur und mit pomadisiertem, zurückgekämmtem Haar. Er musterte mich mit unverhohlenem Interesse. Der andere schien aus Afrika zu kommen, er war kahlköpfig, mit verkniffenem Mund, ein gefährlicher Typ. Nicht einmal seine Sonnenbrille konnte den feindseligen Blick in meine Richtung verbergen. Es war Abneigung auf den ersten Blick.
Bonaventure, eine Kröte im Smoking, entblößte seine Zähne zu einem breiten Lächeln. »Miss Urban, es ist mir ein Vergnügen. Bitte, nehmen Sie
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