Vampire schlafen fest
Brauch, dass man das Band nicht zerschneiden solle, weil damit die Anzahl der Kinder des Brautpaars vorhergesagt würde, aber ich wäre jede Wette eingegangen, dass Halleigh eine schnelle Lösung vorzog. Sie durchschnitt das Geschenkband an der Kartonseite, die ihr am nächsten war, damit ja niemand ihre herzlose Missachtung des Brauchs mitbekam, und warf mir einen dankbaren Blick zu. Wir trugen natürlich alle unsere beste Partykleidung, und Halleigh sah wirklich süß und sehr jung aus in ihrem hellblauen Hosenanzug mit den verstreut auf das Jackett gestickten roten Rosen. Als Ehrengast und Braut trug sie darunter natürlich ein Miedertop.
Mir kam es vor, als würde ich einen Stamm interessanter Eingeborener in einem fremden Land beobachten, einen Stamm, der zufällig meine Sprache spricht. Als Kellnerin stehe ich einige Sprossen unter Halleigh auf der gesellschaftlichen Leiter von Bon Temps. Und dann kann ich auch noch Gedanken lesen, obwohl die Leute das immer wieder gern vergessen, weil es bei meinem total normalen Äußeren so schwer zu glauben ist. Doch ich war auf der Gästeliste gelandet und hatte mir kleidungstechnisch größte Mühe gegeben. Und das ziemlich erfolgreich, wie ich fand. Zu einer ärmellosen, taillierten weißen Bluse trug ich eine gelbe Hose und gelb-orange Sandalen, und mein offenes Haar fiel weich auf meine Schultern herab. Gelbe Ohrringe und eine kleine Goldkette rundeten das Bild ab. Es mochte zwar Ende September sein, aber es war heiß wie im Schattenreich der Hölle. Fast alle der Frauen hatten ihre schicksten Sommersachen angezogen, nur ein paar Tapfere waren in Herbstfarben erschienen.
Ich kannte natürlich jede auf dieser Party. Bon Temps ist nicht sehr groß, und meine Familie lebt bereits seit fast zweihundert Jahren hier. Aber die Leute zu kennen heißt nicht automatisch, sich in ihrer Gegenwart wohlzufühlen, und so war ich ziemlich froh, dass ich die Geschenkeliste schreiben durfte.
Denn ob ich wollte oder nicht, ich erfuhr eine Menge. Zwar gab ich mir größte Mühe, nicht darauf zu achten - wobei meine kleine Schreibaufgabe mir half -, wurde aber trotzdem von Gedanken nur so überflutet.
Halleigh zum Beispiel schwebte auf Wolke sieben: Sie bekam Geschenke, sie stand im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, sie würde einen großartigen Kerl heiraten. Ich war nicht überzeugt, dass sie ihren Bräutigam wirklich richtig einschätzte, aber Andy Bellefleur hatte ganz bestimmt ein paar »großartige« Seiten, von denen selbst ich noch nie etwas mitbekommen hatte. Immerhin besaß Andy mehr Vorstellungskraft als der Durchschnittsmann von Bon Temps, das wusste ich. Und er hatte tief vergrabene Ängste und Wünsche, das wusste ich auch.
Halleighs Mutter war natürlich extra aus Mandeville zur Party angereist und hatte ihr bestes Lächeln aufgesetzt, um ihre Tochter zu unterstützen. Ich war sicher die Einzige, die wusste, wie sehr Halleighs Mutter Menschenansammlungen hasste, sogar so kleine wie diese hier. Jeder Augenblick, den Linette Robinson in Marcias Wohnzimmer verbringen musste, war die reinste Qual für sie. Jetzt gerade, während sie über einen weiteren Witz von Elmer Claire lachte, wünschte sie im Grunde nichts sehnlicher, als mit einem guten Buch und einem Glas Eistee zu Hause zu sitzen.
Ich wollte ihr eben zuflüstern, dass das Ganze (ich warf einen Blick auf meine Armbanduhr) in etwa einer Stunde, spätestens anderthalb, zu Ende sein würde - dachte aber zum Glück noch rechtzeitig daran, dass diese Mitteilung sie erst recht verschrecken würde. Also notierte ich »Selah Pumphrey, Geschirrhandtücher« und saß einfach nur da, bereit, das nächste Geschenk in meine Liste aufzunehmen. Als Selah Pumphrey vorhin zur Tür hereingesegelt kam, war sie wie immer auf einen Ausraster von mir gefasst gewesen. Selah ging schon seit Wochen mit jenem Vampir aus, von dem ich mich losgesagt hatte, und pflegte die fixe Idee, ich wolle mich auf sie stürzen und ihr eine Ohrfeige verpassen. Tja, obwohl sie mich überhaupt nicht kannte, hielt sie nicht sonderlich viel von mir. Ihr war zweifellos entgangen, dass ich den fraglichen Vampir mittlerweile komplett aus meinem Gedächtnis gestrichen hatte. Vermutlich war sie sowieso nur eingeladen, weil sie die Maklerin war, über die Andy und Halleigh ihr kleines Haus gekauft hatten.
»Tara Thornton, Spitzenbody« schrieb ich und warf meiner Freundin Tara ein Lächeln zu. Ihr Geschenk für Halleigh stammte sicher aus dem Warenbestand von Tara's
Weitere Kostenlose Bücher