Vampire's Kiss
ich meine letzte Würde verlor, und nun machte ihn mein Anblick wahrscheinlich so durstig, dass er sich nicht mehr beherrschen konnte und zubeißen würde. Nun, vielleicht ist die Sache dann schneller zu Ende …
Aber er setzte nur wieder dieses verruchte Lächeln auf und sagte: »Jemand muss sich um dich kümmern.« Er stemmte den Felsbrocken, über den ich gestürzt war, mühelos aus dem harten Erdreich und hielt ihn mit ausgestrecktem Arm hoch. »Es kann nicht angehen, dass die beste Kämpferin auf dieser Insel von einem albernen Stein zu Fall gebracht wird.«
Und damit zerbröselte er den Brocken zu Staub, den er in den Wind schleuderte.
»Du arbeitest von jetzt an mit mir, und wir werden dafür sorgen, dass dir nichts mehr im Wege steht.«
Es waren freundliche Worte, und doch enthielten sie eine Drohung. Ich gewann den Eindruck, dass Alcántara darauf achten würde, dass mich nichts und niemand von meiner Aufgabe ablenkte – weder Hindernisse noch Furcht und schon gar nicht andere Menschen.
»Danke«, würgte ich hervor. Wenn mir klar gewesen wäre, dass der Sieg im Semesterwettbewerb des Direktorats dies hier zur Folge haben würde, hätte ich mir die Teilnahme vermutlich zweimal überlegt.
Er verneigte sich höflich und setzte den Weg fort. Ich bemühte mich trotz meiner zitternden Knie, mit ihm Schritt zu halten.
Die Zeit verging, und trotz des kleinen Zwischenfalls blieben seine Gesichtszüge unbewegt wie Marmor. Ich konnte mir denken, dass eine Viertelstunde Stille für einen Unsterblichen nicht mehr war als ein Wimpernschlag, aber ich empfand das Schweigen als quälende Last.
Um mich abzulenken, achtete ich sehr genau auf den Weg, aber meine Gedanken kehrten immer wieder zu Master Alcántara zurück. Ich überlegte, ob er atmete, ob sein Herz schlug – und ob ich es je wagen würde, ihm solche Fragen zu stellen.
Da ich ihm mit gesenktem Kopf folgte, befanden sich nur seine Beine und Füße in meinem Blickfeld. Eine Hose aus schwarzem Denim. Hüften und Oberschenkel nicht zu knochig und nicht zu muskulös. Schlichte halbhohe Stiefel aus einem weichen Leder, das nicht zu stark glänzte, aber auch nicht abgetragen wirkte. Der Vampir gab zwar den lässigen Indie-Rocker, aber für meinen Geschmack wirkte diese Rolle ein wenig einstudiert. Ich konnte mir gut denken, dass er im siebzehnten oder im neunzehnten Jahrhundert oder auch vor vierzig Jahren genauso große Aufmerksamkeit auf sein Outfit verwendet hatte, wie er es heute tat.
Ich unterdrückte mühsam ein nervöses Lachen, als ich mir vorstellte, wie Alcántara in einem Freizeitanzug und einem Hawaii-Hemd der Siebzigerjahre ausgesehen hatte.
Ich war mir sicher, dass er meine prüfenden Blicke spürte – den Vampiren entging nichts –, aber er schwieg weiter, und meine Angst wuchs, dass ich irgendwann nicht mehr an mich halten konnte und loskichern würde. Deshalb beschloss ich, ihm die Frage zu stellen, die mich beschäftigte, seit ich den Semesterpreis des Direktorats gewonnen hatte. »Ach, und überhaupt – worin besteht denn nun mein Spezialauftrag? Oder der Einzelunterricht, den Sie mir dafür aufs Auge drücken?«
Ich wusste, dass wir für diese Mission die Insel verlassen würden, und mir schossen alle möglichen James-Bond-Szenen durch den Kopf. Würde ich lernen, den Steuerknüppel eines Flugzeugs zu bedienen? Auf Skiern und mit einem Gewehr auf dem Rücken über Steilhänge zu brettern? Mich in die modernsten Computersysteme zu hacken?
Einen Moment lang wich der Glanz aus seinen schwarzen Augen. »Du musst wirklich an deiner Ausdrucksweise arbeiten, Acari Drew. Du siehst zauberhaft aus, du besitzt einen sprühenden Geist und einen scharfen Verstand, aber deine Wortwahl verrät einen gewissen Mangel an Bildung.«
»Ähmm …«, begann ich und erntete dafür einen scharfen Blick des Vampirs. Ich schluckte und machte einen zweiten Versuch. »Ich meine … welche Einzelfächer werde ich in diesem Semester belegen?«
Wir erreichten das Schulgelände. Ich war so in Gedanken vertieft, dass ich erst bemerkte, welchen Weg Alcántara eingeschlagen hatte, als wir vor dem Gebäude anhielten, das mir verhasster als jedes andere auf dem Campus war – dem Pavillon der Schönen Künste. Ich hätte wetten können, dass dieser Name von ihm stammte, dem hehren Leiter der Kunst-Abteilung, den ich mehr verabscheute als jede andere Person, tot oder untot: Master Alrik Dagursson.
»Moment. Was machen wir hier?«
»Ich bringe dich zu deinem
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