Vampirmelodie
Grün weiter, und plötzlich hielt ich völlig hingerissen inne. Das nächste Kleid war von einem satten Sonnengelb, ärmellos, gefüttert, mit einem tiefen, runden Halsausschnitt und einer großen flachen Schleife hinten im Rücken. Es war wunderschön.
»Ich liebe dieses Kleid«, sagte ich laut heraus und war vollkommen glücklich. Ziemlich oberflächlich, was? Ja, ich weiß. Aber ich ergreife eben jede Gelegenheit zur Freude, die sich mir bietet.
»Das hier werde ich mal anprobieren«, rief ich und hielt es hoch. Die Besitzerin, tief in Taras Geschichte von der Geburt versunken, drehte sich nicht einmal um. Sie hob nur die Hand und winkte zustimmend. »Rosanne wird sich gleich um Sie kümmern«, rief sie.
Das Kleid und ich verschwanden hinter dem Vorhang des Umkleidebereichs. Es gab vier Kabinen, und da sonst niemand den Shop betreten hatte, war ich nicht überrascht, sie alle leer zu finden. In Rekordzeit war ich aus meinen Shorts und meinem T-Shirt geschlüpft. Atemlos vor Spannung nahm ich das Kleid vom Bügel und zog es mir über den Kopf. Es legte sich um meine Hüften, als wäre es glücklich, sich dort niederlassen zu dürfen. Ich griff in den Rücken, um den Reißverschluss hochzuziehen, und bekam ihn immerhin halb zu, aber weiter kann ich die Arme nun mal nicht verrenken. Als ich aus der Kabine trat, um zu sehen, ob ich Tara nicht aus ihrer faszinierenden Unterhaltung loseisen könnte, stand eine junge Frau, vermutlich Rosanne, direkt davor und schien nur darauf gewartet zu haben, dass ich auftauchte. Bei ihrem Anblick hatte ich irgendwie das vage Gefühl, als hätteich sie schon mal gesehen. Rosanne war knapp zwanzig, noch so eine Art pummliger Teenager mit ihrem braunen geflochtenen und zu einem Knoten gerollten Haar. Sie trug einen adretten Hosenanzug in Aquamarinblau und Cremeweiß. Irgendwo hatte ich diese junge Frau doch schon mal gesehen?
»Es tut mir ja so leid, dass ich nicht gleich zur Stelle war, um Ihnen zu helfen!«, sagte sie. »Was kann ich für Sie tun? Brauchen Sie Hilfe mit dem Reißverschluss?« Sie hatte quasi in dem Moment, als ich hinter dem Vorhang auftauchte, zu reden begonnen, und erst als sie fertig war, sah sie mir ins Gesicht.
»Oh, Mist!«, entfuhr es Rosanne so laut, dass die Shop-Besitzerin sich nach uns umdrehte.
Ich warf der eleganten Allison ein »Hier ist alles in Butter«-Lächeln zu und konnte selbst nur hoffen, dass das keine Lüge war.
»Was ist los mit Ihnen?«, flüsterte ich Rosanne zu. Ich sah an mir selbst herunter auf der Suche nach irgendetwas, das ihren Schreck ausgelöst haben könnte. Hatte ich etwa meine Periode bekommen? War sonst was mit mir? Als ich nichts Schockierendes entdeckte, blickte ich sie besorgt an und wartete darauf, dass sie mir erzählen würde, warum sie so aufgeregt war.
»Sie sind es«, erwiderte Rosanne atemlos. »Diejenige, welche.«
»Diejenige, welche was ?«
»Diejenige, die so große magische Kräfte hat. Diejenige, die den Zweigestaltigen von den Toten aufgeweckt hat.«
»Ach so.« Das erklärte einiges. »Sie gehören vermutlich zum Reißzahn-Rudel? Ich hatte doch gleich das Gefühl, Sie schon mal gesehen zu haben.«
»Ich war dort«, sagte sie mit einer ungerührten, an die Nerven gehenden Intensität. »Auf Alcides Farm.«
»Das war ziemlich schrecklich, was?«, erwiderte ich. Und es war das Letzte, worüber ich reden wollte. Um wieder auf die gegenwärtige Angelegenheit zurückzukommen, lächelte ich Rosanne, die Werwölfin, an. »Hey, könnten Sie mir wohl den Reißverschluss ganz hochziehen?« Ich wandte ihr den Rücken zu, nicht ohne Beklommenheit. In dem mannshohen Spiegel sah ich, wie sie mich anblickte. Es brauchte keinen Telepathen, um diesen Gesichtsausdruck zu interpretieren. Sie fürchtete sich davor, mich zu berühren.
Jetzt waren auch die letzten Reste meiner guten Laune dahin.
Als ich noch ein Kind war, hatten manche mich mit einer Mischung aus Unbehagen und Abscheu betrachtet. Telepathisch begabte Kinder sagen manchmal die schlimmsten Sachen, und keiner vergisst oder mag sie dafür, dass sie etwas Privates oder ein Geheimnis ausgeplaudert haben. Telepathie ist für ein Kind wirklich entsetzlich. Sogar ich, die ich selbst die Telepathin bin, hatte es so empfunden. Manche hatten furchtbare Angst vor meiner Fähigkeit gehabt, die ich damals noch nicht zu verbergen wusste. Doch seit ich etwas mehr Kontrolle besaß über das, was ich sagte, wenn ich in den Gedanken eines Nachbarn etwas höchst
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