Vampirnacht
Nahrung.
Ich blickte über die Schulter zurück, sah kein anderes Fahrzeug, wechselte die Spur und gab Gas. Bei Tag war Seattle eine geschäftige Großstadt, doch wenn nicht gerade ein großes Baseball- oder Football-Spiel anstand, herrschte so spät am Abend kaum Verkehr. Der nachmittägliche Berufsverkehr war meist gegen sieben Uhr vorbei, und danach waren die Straßen ziemlich frei.
Es begann wieder zu regnen. Dicke Tropfen platzten auf der Windschutzscheibe. Ich schaltete die Scheibenwischer ein, drehte das Radio auf und suchte mir einen Sender mit Lokalnachrichten.
Im Zentrum von Seattle hatte sich ein Mord ereignet – eine Gruppe Vergewaltiger hatte ihr Opfer getötet. Und ein Polizist – keiner, den wir kannten – war angefahren worden, als er an einer Unfallstelle den Verkehr geregelt hatte. Dem Sprecher zufolge würde er sich wieder erholen. Im Geiste seufzte ich dankbar. Ich betete nicht oft zu den Göttern. Natürlich wusste ich, dass es sie tatsächlich gab, aber ich hatte keinen Draht zu ihnen. Doch um des Polizisten willen flüsterte ich den himmlischen Mächten ein leises Dankeschön zu. Es gab zu viel schlimme Neuigkeiten auf der Welt, und ich war dankbar für alles Gute, wovon wir erfuhren.
Mein Handy klingelte.
»Anruf annehmen«, sagte ich. Es war verboten, während der Fahrt ein Telefon in die Hand zu nehmen – und das aus gutem Grund. Wir brachen zwar eine Menge Regeln, aber das war eines der Gesetze, die wir sehr wohl befolgten.
Es war Iris. »Camille und Morio sind zu Hause und versuchen, etwas gegen die Irrlichter zu unternehmen, aber bisher hatten sie kein Glück. Menolly, ich habe mehrmals versucht, Nerissa zu erreichen, aber sie geht nicht ans Telefon. Weder ans Festnetz zu Hause noch an ihr Handy. Ich mache mir Sorgen. Das sieht ihr gar nicht ähnlich.«
Ich hielt den Blick auf die Straße gerichtet, doch meine Gedanken begannen zu rasen. Wo zum Teufel steckte sie? »Iris, könntest du Yugi anrufen und ihn fragen, ob sie heute zur Arbeit gekommen ist? Und sag mir bitte gleich Bescheid.«
»Mache ich sofort.« Iris legte auf.
Jetzt wollte ich nur noch umkehren und nach Hause rasen, aber wir brauchten dieses Ferkel. Ich musste weiterfahren, obwohl ich vor Sorge schon halb verrückt wurde. Keine zwei Minuten später rief Iris wieder an. »Menolly? Ich habe mit Yugi gesprochen. Er sagt, Nerissa sei heute da gewesen. Sie hat ihm wohl gesagt, dass sie heute Abend noch einkaufen gehen wollte. Aber dann müsste sie doch inzwischen zu Hause sein.«
Ich ging vom Gas. »Nicht unbedingt. Viele Einkaufszentren haben bis neun Uhr geöffnet, und Nerissa hat gewaltige Ausdauer beim Shoppen. Ich glaube, ich weiß sogar, wonach sie sucht.« Hochzeitskleider standen mir vor Augen. »Wenn sie nicht zurück ist, bis ich nach Hause komme, fahre ich noch mal los und suche sie. Aber im Moment arbeite ich erst mal an der Lösung des Irrlichtproblems.«
»Was tust du denn genau, Menolly?« Iris klang argwöhnisch.
»Ich habe Hilfe organisiert, sie wird in etwa anderthalb Stunden da sein. Ich beschaffe noch die … Bezahlung.« Ich wusste, was Iris dazu sagen würde, aber ich kam nicht darum herum – wenn ich es nicht selbst gestand, würde sie es aus mir herauspressen. »Ich habe Ivana angerufen.«
Nach einem kurzen Schweigen explodierte Iris. »Bist du wahnsinnig, Mädchen? Du hast die Maid von Karask beauftragt, obwohl wir dich dringend davor gewarnt haben, sie je wieder zu kontaktieren?«
»Sie kann Irrlichter genauso einsaugen wie Geister. Du hast doch selbst gesagt, dass die anderen nicht vorankommen.«
»Ja, aber Smoky und Camille sind jetzt unterwegs zu Aeval. Was, glaubst du, wird passieren, wenn die Königin der Dunkelheit hier ist und dann eine der Alten Feen auftaucht? Ist dir nicht klar, was für eine entsetzliche Kombination das ist? Die Alten Feen hassen die Feenköniginnen, und die Feenköniginnen haben für die Alten Feen auch nichts übrig!« Iris klang völlig entsetzt. »Menolly, was hast du dir nur dabei gedacht?«
»Hör mal, ich habe es satt, mir Sorgen darum zu machen, wer sich über wen ärgern könnte. Iris, ich muss Schluss machen. Da ist meine Ausfahrt, ich muss mich auf die Straße konzentrieren. Telefon, Gespräch beenden.«
Stille. Ich würde mir einiges anhören müssen, wenn ich nach Hause kam, aber darum konnte ich mich später kümmern. Iris’ Hormone waren in Hochform, und sie war reizbar ohne Ende. Ihr Bauch rundete sich schon sehr deutlich – kein
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